Kolumne

Verloren in käuflichen Augen

Ich betrachte gerne erotische Zeichnungen, lese eindeutige Geschichten, schaue Pornos, aber ich habe noch nie einen Menschen dafür bezahlt, Sex mit mir zu haben. Damit wir das gleich im ersten Satz geklärt haben.

Von Selim Özdogan

Dass ich hier in Madrid öfter durch Straßen gehe, in denen Frauen sich prostituieren, hat nur am Rande damit zu tun, dass das eine leise Faszination auf mich ausübt. Viel mehr ist es so, dass diese Straßen ganz normale Einkaufsstraßen mitten im Zentrum sind.

Da viele Frauen sexy angezogen sind und die eine oder andere sich einfach nur unglücklicherweise vor dem McDonalds verabredet hat, kann man nicht immer sofort ausmachen, wer da für Geld steht und wer auf andere Gesellschaft wartet.

Eines Abends fiel mir eine junge Frau auf, weil ich sie attraktiv fand. Ich wusste nicht, auf wen sie wartete. Sie sah nicht aus wie eine Nutte in ihren tief hängenden Skaterhosen und ihrem Kapuzenpulli.

Als ich dieselbe Straße wieder zurückging, hat sie mich angesehen. Sie hat mich mit ihren dunklen, schönen Augen angesehen, dass kein Zweifel mehr bestand, was sie von mir wollte. Aber gleichzeitig war dieser Blick so offen, so rein, so klar, wie du ihn fast nie auf der Straße bekommst.

Sie hat mich in ihre Augen hineingelassen, hat eine Tiefe gezeigt, wie ich sie selten finde. Oft nicht mal bei diesen raren Menschen, denen vor gelassener Heiterkeit die Liebe aus den Augen quillt. Es gibt diese Momente, in denen du hängen bleibst im Inneren eines Anderen.

Ganz kurz nur.

Dann habe ich weggeschaut, weil wir ja nicht dasselbe wollten. Oder vielleicht ja doch. Ein Blick, an den man sich Jahre später noch erinnert. In meinem Gedächtnis sind ganze zehn oder zwölf davon.

Jeden Abend gehe ich die Straße lang, manchmal mit Geld in der Tasche, manchmal ohne. Ich weiß nicht, was ich will. Ich kann diesen Blick nicht vergessen. Seit Wochen gehe ich jeden Abend die Straße lang, zu verschiedenen Zeiten, aber sie ist nicht mehr da.

Wie viel Zeit wird vergehen, bis ich wieder jemand auf den Grund schauen kann.

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38 / 2006
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