Kolumne
Auf die Matte
Passen die Schuhe, vegisst man die Füße: Selim Özdogan kommt von Vinylschaum auf Baumwolle wie vom Hölzchen auf's Stöckchen. Und dabei nicht zum arbeiten
Wie bei anderen spirituellen Disziplinen auch, geht es beim Yoga unter anderem darum, seine Energien zu konzentrieren. Man soll sich auf sich selbst besinnen, auf seinen Atem, seinen Körper, man soll den inneren Frieden in sich selbst suchen und nicht draußen in der Welt, die unzählige Ablenkungen bietet.
Ist ja nicht nur beim Yoga so, wenn man spülen will, kann man nicht gleichzeitig attraktiven Frauen hinterstarren, wenn man arbeiten möchte, kann man nicht stundenlang ziellos im Netz surfen. Joggen geht nicht vor dem Fernseher und wer mit Kopfhörern auf den Ohren versucht die Ansage am Bahngleis zu verstehen, bekommt Schwierigkeiten.
Es ist wohl ganz normal, daß man versucht zu entkommen, der inneren Leere, der anstrengenden Arbeit oder was immer es auch ist. Und da ist jede Ablenkung recht, die den Geist einige Zeit mehr oder weniger mühelos beschäftigt. Das nennen wir Freiheit.
Sie wollen dir weismachen, du müsstest tagein, tagaus zwischen so was wählen können, um dich frei oder lebendig oder selbstverwirklicht zu fühlen. Aber das ist Quatsch, etwas, woran wir uns klammern, damit wir nicht alle total durchdrehen angesichts des Wahnsinns dieser verkorksten Welt, die wir ihnen erlaubt haben, um uns herum zu erschaffen. Sagt Irvine Welsh. Gemeint ist die Getränkewahl, Cola, Pepsi, Sprite, Tee, Kaffee, entkoffeiniert, zuckerfrei, mit Vanillearoma oder Kapitalgestank.
Die vermeintliche Wahl ist auch nur eine weitere Ablenkung von wesentlichen Dingen. Letztlich ging es mir endlich auf: Ich bin ein Vollidiot. Ich beschäftige mich dauernd mit Yoga, auch wenn ich gerade nicht praktiziere. Ich bin der Trottel, der sich in diesen unendlichen weites des Netzes über Matten informiert, Yogamatten. Es gibt so viele verschiedene, Latex, Baumwolle, ein Latexbaumwollegemisch, Vinylschaum, verschiedene Farben, Formen, fünf Millimeter dick, zwei Zentimeter dick, garantiert rutschfeste, noch rutschfestere, die beste Matte, die Koryphäe David Williams je benutzt hat, extra leichte für Reisen, mit eingezeichneten Linien für bessere Körpersymmetrie, es ist schier unglaublich, woher soll ich denn wissen, welche die richtige für mich ist?
Shit, dabei macht es keinen Unterschied, du brauchst irgendeine Matte, die nicht rutscht, Punkt. Und jetzt hast du schon wieder zwei Stunden damit verbracht zum Mattenexperten zu werden, obwohl du eine hast, mit der du zufrieden bist.
Die Illusion, man hätte die Wahl zwischen schlecht und gut und noch besser, verläßt einen nicht von heute auf morgen. Auch wenn man sie durchschaut. Welsh hat schon recht, diese Welt ist total verkorkst, ein Irrsinn, den wir erschaffen haben. Aber ich fürchte, ich bin oft genug auch nicht viel besser.
04 /
2006
ZEIT ONLINE