Kolumne

Keine Angst

Passen die Schuhe, vergisst man die Füße

Von Selim Özdogan

Ich habe Ratten gesehen in Tierhandlungen. Ich habe Ratten gesehen, die bei Punks auf der Schulter saßen. Ich habe Ratten gesehen in Indien, die fast schon frech wirkten. Ich habe einmal eine Ratte gesehen, wie sie im Schein einer Straßenlaterne schwarz glänzend im Gulli verschwand. Wir haben alle schon Ratten gesehen und mir hat das nie sonderlich etwas ausgemacht. Waren halt da, sahen nicht schön aus, aber geekelt hat es mich nicht. Und das ensetzte Quieken mancher Menschen beim Anblick einer Ratte, habe ich oft als übertrieben empfunden.

Vor einigen Abenden höre ich, als ich gerade am Badezimmer vorbeigehe, ein ungewohntes Geräusch, das so klingt, als käme es von unter Wasser. Es könnte mit meinem tropfenden Wasserhahn zusammenhängen, doch dafür ist das Geräusch viel zu laut. Ich habe einen von diesen WC-Würfeln gekauft, die man in den Spülkasten hineinlegt. Es könnte sein, dass der jetzt auf mysteriöse Weise ins Klo gerutscht ist. Diese beiden Möglichkeiten fallen mir in der Sekunde ein, in der ich zur Klinke greife. Ich öffne die Tür, merke, dass ich das Licht angelassen habe, schaue angezogen von der Bewegung zum Klo, dessen Deckel ich aufgelassen habe und sehe eine Ratte. Eine fast unterarmlange nass glänzende Ratte mit schwarzen Augen, die aus meinem Klo herausschaut. Während ich die Tür blitzschnell wieder schließe, höre ich nochmals dieses Geräusch, das so klingt, als würde es unter Wasser erzeugt. Ich schlage die Hände vors Gesicht, eine Bewegung, die ich von mir gar nicht kenne.

Du kennst dich selbst nicht, das ist der Grund, warum du auf dem Weg anderen begegnest. Du sollst dich selber besser kennenlernen, heißt es.

Ich wusste nicht, daß ich Angst vor Ratten habe. Und ich habe immer noch keine Angst vor diesen ganzen Ratten, die schön weit weg sind. Aber wenn es darauf ankommt, die Ratte und ich, Angesicht zu Angesicht in meinem kleinen Badezimmer, überlasse ich der Ratte das Feld. Und das hat nichtmal etwas mit dem Schreck zu tun, fürchte ich, ich würde es nächstes Mal wieder so machen. Beruhigt mich nicht ausreichend, dass die auch Angst haben vor mir.

Und das nächste Mal, wenn ihr auf die Toilette müsst – denkt an mich.

04 / 2006
ZEIT ONLINE