Kolumne

Ihr

Passen die Schuhe, vergisst man die Füße

Von Selim Özdogan

Manchmal würde ich gerne ihr sagen. Ihr da draußen. Ihr mit euren spackigen Ansichten und Meinungen. Ihr, mit denen ich mich eigentlich nicht beschäftigen will. Ihr habt sie doch nicht mehr alle.

Wenn Michael Moore einen höchst emotionalen, polemischen, amerikakritischen Film dreht und das als Dokumentarfilm ausgibt, ist das in Ordnung. Wenn ein türkischer Film, der als fiktionaler Film erkennbar ist, angeblich amerikafeindlich ist, löst das arge Bedenken aus und Cinemax nimmt ihn auf die Empfehlung von Politikern aus dem Programm. Zensur gibt es hier keine.

Wenn Faschisten in verschwindend kleinen Gruppen demonstrieren wollen, was in einer Demokratie ihr gutes Recht ist, finden sich immer irgendwelche Menschen, die das im Namen des Guten verhindern wollen und mit Tomaten und Eiern schmeißen, als hätten sie jedes Recht dazu.

Als in der Türkei den Kurden ihre Sprache noch verboten wurde, war das zutiefst undemokratisch und wurde hierzulande zu Recht scharf kritisiert. Heute kann man in Deutschland darüber diskutieren, ob deutsch nicht als verbindliche Sprache auf Pausenhöfen eingeführt werden soll.

Seit 2003 haben wir weltweit 175 dokumentierte Erkrankungen von Menschen an Vogelgrippe, gestorben sind 95 davon. Zu dieser Statistik tragen auch südostasiatische Länder bei, in denen Hühner mancherorts noch zum normalen Straßenbild gehören. Was soll also der ganze Bohei?

Wenn man in Deutschland eingebürgert werden möchte, muß man angeblich Fragen beantworten, die streckenweise viel zu privat sind. Dabei stimmt das gar nicht. Wenn man eine Sportart sehr gut beherrscht und damit zum nationalen Ansehen beitragen kann, wird man ratzfatz ohne viel Gewese eingebürgert.

Wenn ein Trainer hingegen möglicherweise dem nationalen Ansehen schaden könnte, wird diskutiert ob er vor den Sportausschuß des Bundestages soll.

Ich würde gerne ihr sagen. Ihr habt sie doch nicht mehr alle, ihr glaubt jeden Scheiß, den man euch vorsetzt und wollt bei jedem Kackthema mitreden, ohne die geringste Ahnung zu haben. Ihr laßt euch jeden Furz als Nachricht auftischen und merkt nicht mal, daß es nur heiße Luft ist. Wenn jemand Meinungfreiheit und freiheitlich-demokratische Grundordnung sagt, dann lasst ihr euch einreden, es ginge um Werte und merkt nicht, dass hier mit bloßen Worthülsen hantiert wird. Ich würde gerne ihr sagen – doch es gibt kein ihr und es gibt kein da draußen. Ich bin Teil dieser Welt und Teil der ganzen verschissenen Medienmaschine. Und ich kann mir nicht mal einreden, ich sei ein Sandkorn.

Es ekelt mich manchmal, zu sehen, wie sehr wir darin versagen, es uns hier schön zu machen.

04 / 2006
ZEIT ONLINE