China

Alles bleibt anders

Reisen in fremde Länder sind aufregend und exotisch? Bei Guy Delisle ist die chinesische Stadt Shenzen einfach nur ein Ort, von dem man möglichst schnell wieder verschwinden sollte.

Von Jan-Frederik Bandel

Reiseberichte sind meistens Geschichten von Kulturschocks. Da kommt einer irgendwo an und alles ist ganz anders, als er es kennt. Oder es ist alles fast genauso, wie er es kennt – nur auf derart merkwürdige Weise verschoben, dass er sich trotzdem nicht zurechtfindet. Dann mit der Zeit wird es, ohne dass er es merkt, immer vertrauter. Das Schroffe, Spröde zeigt seine verborgene Schönheit und zum Schluss weiß unser Reisender gar nicht mehr, ob er traurig oder glücklich ist, wieder heim zu müssen. Warum dieses Schema so gut ankommt? Keine Ahnung, auf jeden Fall rechnen wir fest damit.

Was wir eher nicht erwarten: Dass einer ankommt und sich nichts, schon gar nichts Aufregendes, erhofft. Dass er stur und einsam im Hotelzimmer hockt, die mitgebrachten Bücher liest und sich wahnsinnig aufregt über die Langeweile, die von dieser verdammten Stadt ausgeht. Und über Instantkaffee, unfähige Kollegen, Fehlplanung und absurde Höflichkeitsrituale, die nur Umstände bereiten. Dass es ihn aus dieser Frustration nicht einmal herausreißt, als er allmählich Freunde findet.

So ist es dem kanadischen Zeichner Guy Delisle Ende der neunziger Jahre im chinesischen Shenzhen ergangen, glaubt man seinem gleichnamigen Comic-Bericht. Shenzhen ist eine so genannte „Sonderhandelszone“ in der Provinz Guangdong, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Hongkong – ein Inbegriff der ökonomischen Öffnung der Volksrepublik Richtung Westen. Wollte man die Höllen- und Himmelskreise Chinas bestimmen, schreibt Delisle, dann wäre man in Shenzhen schon ziemlich fern der inneren Hölle des ländlichen China. Fast schon in Hongkong – und von dort ist es nur noch ein Sprung ins irdische Paradies: Amerika.

Nur: Für den Chinareisenden in seinem Comic Shenzhen scheint es anders auszusehen. Alles ist fremd. Nicht einmal die übliche Exotik und Folklore lässt sich hier finden. Am dritten Tag beginnt er die verbleibenden Tage zu zählen. Nur ganz selten scheint etwas zu gelingen: Beim Essen zum Beispiel. Oder bei der Erkenntnis, dass eine geistreiche Erzählung sogar dann komisch sein kann, wenn man kein Wort versteht. Meistens aber rennt er in Abwehrstellung durch die Stadt.

Shenzhen ist keineswegs einfach ein grafisches Tagebuch. Wie Delisles Zeichnungen skizzenhaft und doch prägnant ausgearbeitet sind, sind auch die Episoden des Reiseberichts keine rohen Notizen, sondern präzise zugespitzt. Delisles Comic erzählt von den Merkwürdigkeiten einer ökonomisch globalisierten Welt. Von einer fremdartigen Normalität zwischen Postkommunismus, brutalem Kapitalismus und die daran angepassten Bruchstücken chinesischer Tradition. Shenzhen zeigt diese Welt als so absurd, wie sie vielleicht wirklich ist.

Auch schön:

Rezension der vorherigen Woche - Obszöne Liebe

04 / 2006
ZEIT ONLINE