Sonntagstext
der strom
bevor es soweit war, sagte der inzwischen schwache vater aus trockenem mund zum nachgewachsenen sohn: "ich kann nun nicht mehr."
bevor es soweit war, sagte der inzwischen schwache vater aus trockenem mund zum nachgewachsenen sohn: "ich kann nun nicht mehr. sohn, die zeiten sind hart, du musst dich anstrengen. das leben ist nicht mehr, was es mal war, also beeile dich und versuch' das beste draus zu machen. du wirst deinen weg schon finden. es ist jetzt zeit."
der sohn muss nun in den reißenden strom steigen, der sich einmal längs wie quer über die ganze welt gefressen hat. das wasser ist aschgrau, es sprudelt, es spült über steine und löcher hinweg. es schluckt festland, es gurgelt und es grunzt. der freigelassenen beginnt, (denn er muss, es gibt keinen versuch) mit dem schwimmen. an den seiten des stroms hat man gottseidank (es war aber die menschheit ganz allein) bunte werbetafeln angebracht. die stromstraße ist davon gesäumt und zeigt beispielhaftes leben zur besseren orientierung und erbauung. kräftige farben auf großen bildern rasen an dem sohn vorbei. die aussicht darauf glimmt hoffnungsvoll in ihm auf und indem er sich den fuß an einem stein in den fluten blutig schlägt, denkt er entschlossen und seiner unbequemen lage zum trotz, dass es sich dafür bestimmt lohnen wird. die zukunft wird ihm ausgemalt:
sie können schön und glücklich sein! eine familie, zwei elternteile, zwei kinder, ein eigenheim und sie sehen perfekt aus! das kaminzimmer strahlt golden, auf dem boden liegt ein modischer teppich (rot) und es ist ganz warm!
mit dem auto kommen sie sicher ans ziel! die ganze familie findet platz in komfortablen sitzen (schwarz, auswaschbar) und fährt gemeinsam zur ferieninseln. die insassen haben weißere zähne und ein strahlendes lächeln. dazu würde dieses parfüm hier besonders gut passen. sie riechen nach erfolg und können durchstarten!!!
den sohn hat es schon weit weg getrieben. die werbetafeln können ihn nicht mehr ermutigen, denn er ist dem ertrinken nahe. japsend verschlingt er luft und spuckt prustend wasser wieder aus, strampelnd hebt er sein haupt über das reißende grau. er möchte zum land zurück, das nicht in sicht ist. er möchte etwas erreichen! der vater steht außer sichtweite am rand. er winkt noch immer zum abschied. (leider konnte er seinem nachgewachsen nicht die besten voraussetzungen mitgeben. wenn sie in die pressgespanten schubladen des väterlichen schreibtischs gucken und seine papiere durchsehen, werden sie schnell merken, meine damen und herrschaften, dass da nicht viel zu holen ist, das würde auch jedes amt bestätigen. es hat nicht gereicht für dieses zufällige fallbeispiel von einem sohn und das fällt nun beim schwimmen negativ auf ihn zurück.)
in weiter entfernung rudert der sohn um sein leben. wenn es der strom erlaubt, streckt er engagiert die hand in den wind und reckt seinen zeigefinger. der drängende strom hebt ihm fast die knochen aus den gelenken, so zerrt es an ihm. seine kraft löst sich im wasser auf. die sich dünn um ihn legende haut ist durch die kälte rot. sie zieht sich eng um ihn zusammen und gleicht der von gerupftem geflügel, das aber keiner so recht verspeisen mögen würde. der sohn konnte sich am esstisch unter dem familiären lampenschirm keine schützende fettschicht anfressen und die fetten schwimmen nun mal oben. sie treiben auf dem wasser mühelos an ihm vorbei, einige haben schlauchbote und sogar segelyachten (Queen Mary 2 bis 18), welche ihnen die reise erleichtern.
der rudernde sohn aber gibt nicht auf und bemüht ein lächeln. er winkt freundlich zu den booten hoch und versucht dort aufenthalt zu erhalten.
dort oben genießt man unter gästen gerade eine amüsierfahrt mit häppchen und prosecco. es wird der runde geburtstag eines erfolgreichen vaters und geschäftsmanns gefeiert. zur allgemeinen erhebung wurde eine kapelle auf das schiff bestellt, die das gurgelnde rauschen des stroms behutsam überspielt. der sohn ist von dort unten nur sehr schwer verständlich und es muss ihn auch auch keiner sehen. er schiebt wasser zur seite, das ihm schwappend ins gesicht klatscht. er schwimmt mit letzter kraft an den bug, an die haushohe schiffswand heran und ruft. es hat sich zufällig einer von der gesellschaft entfernt, um in die ferne zu blicken und einen klaren gedanken zu fassen. es ist der sohn des jubilars. er lehnt an der reling und sieht sich um. von unten ruft es schwach. dem sohn steht das wasser bis über den hals, den kopf im nacken presst er einen schrei die kehle hoch. er hofft auf seine gelegenheit und will sie beim schopfe packen, um sich daran aus der der suppe, die er sich nicht eingebrockt hat, herauszuziehen. der an der reling stehende richtet seinen blick nach unten und sieht einen in not. aus dem fast blau angelaufenen gesicht – halb lächelnd, eher weinend, ja bettelnd – rast die angst zu ihm hinauf und springt ihm an die kleider. der junge mann auf dem schiff macht einen großen satz zurück. seine mundwinkel zucken leicht. auf starren beinen beugt er sich langsam nach vorne, um einen blick auf den ertrinkenden zu werfen. wie ein tanzendes blatt wirbelt der in den fluten umher und starrt den auf dem schiff stehenden aus schwarzen löchern an. jener fühlt tiefe betroffenheit. pause.
er denkt über eine nothilfe nach, die man für solche fälle einrichten müsste. ferner stellt er die überlegung an, zukünftig regelmäßig spendengelder zu investieren und geht los, um seinem jubiläums-vater und der gesellschaft auf dem boot von der dringlichkeit seiner überlegung zu berichten. man ist sich absolut einig.
unten wird der sohn korkenleicht durch das wasser geschmissen. er macht den toten mann. kurz hofft er, bald in diesen zustand übergehen zu dürfen. dann aber holt er die worte seines vaters aus sich heraus und sendet mit ganzer kraft einen befehl an die beine: schwimmen, strengt euch an! los, auf zu neuen ufern! der strom aber bestimmt den weg, er reißt ihn von links nach rechts, zieht ihn über gestein und unter wasser. in seinem kopf brennt nur noch notbeleuchtung, die ihm keinen ausgang weist, ihm dämmert nichts, aber er lässt nichts unversucht. schließlich sinkt er ermattet und ohne willen unter wasser, wo er sekundenlang auf einen walbauch hofft , der ihn in sich aufnehmen könnte —.
er findet keinen weg.
der vater steht noch immer am rand. er sieht den sohn nun seit stunden nicht mehr. gebückt und sich auf einen gehstock stützend, verbleibt er noch eine weile am ufer und hält ausschau. allmählich verlassen auch ihn die kräfte und er geht mit den schleppenden schritten eines alten mannes in sein haus zurück. er würde nun endlich schlafen wollen, müsste er nicht an seinen sohn denken, der in den fluten ertrunken ist.
auf dem schiff ist man inzwischen beim dessert angelangt. jetzt soll getanzt werden. los! tanzen sie!
Dezember 2008
4 /
2009
ZEIT ONLINE