Mein Held

Sendeschluss

Mein Onkel Walter tat, wovon ich nur träumen konnte. Er war ein Held. Ihm zu Ehren bekam ich meine erste Tätowierung.

Die Kolumne von Selim Özdogan

Mein Vater hatte dicke blaue Adern auf seinem Handrücken und ich mochte es, sie mit meinem Finger runterzudrücken. Jedes Mal wollte ich wissen: Tut das nicht weh? Und mein Vater verneinte. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß das die Wahrheit war.

Onkel Walter hatte ein Anker auf dem Handrücken. Das Blau war viel kräftiger und dunkler als das Blau der Adern meines Vaters. Der Anker wölbte sich nicht vor wie die Adern, schien mir aber das größere Wunder.

Ich werde Onkel Walter wohl oft gefragt haben, was das war und woher er das hatte, aber selbst wenn er mir damals eine Antwort gegeben hat, hat sie mir wohl nicht eingeleuchtet, sonst hätte ich sie mir gemerkt. Erst Jahrzehnte später, nach seinem Tod, fiel mir ein Bild in die Hände, auf dem er noch jung war und einen Matrosenanzug trug.

Ich weiß nicht, wie es ihn nach Köln verschlagen hat, in diesen Beruf als Chaffeur bei der Lufthansa. Aber ich weiß, daß ich ihn nie betrübt oder auch nur ernst erlebt habe. Meine Eltern kannten Tante Tanja und Onkel Walter nicht gut genug, um meine Fragen zu beantworten. Tante Tanja musste nicht arbeiten wie meine Mutter, sie wohnte um die Ecke, also blieb ich bei ihr.

Tante Tanja setzte mich mit einem Versandhauskatalog auf den Teppich im Wohnzimmer, gab mir eine Schere und ich konnte mich stundelang leise allein beschäftigen. So erzählte sie es später. Ich erinnere mich an die Kataloge ebensogut wie an den Anker, an die Seiten woller Spielsachen, die es nirgendwo da draußen gab und die ein Leben voller Abenteuer versprachen.

Es war damals schon, wie später auch immer: Die Vorstellung von den Dingen war schöner als die Dinge selbst. Doch damals reichte die Vorstellung, man konnte noch nicht zielgerichtet auf die Enttäuschung zusteuern.

Tanja nahm mich auch mit zum einkaufen oder spazieren und sie traf viele Leute auf der Straße, redete laut und lachte oft. Ich kann mich nur an eine Situation erinnern, in der sie böse mit mir war. Das war als ich ihren Marmormörser nahm, der zur Dekoration im Wohnzimmerschrank stand, und tatsächlich etwas damit zerkleinerte. Ich war damals erschrocken, Tanja so zu sehen. Von meinen Eltern kannte ich das, aber Tanja hatte noch nie so mit mir geschimpft. Oder mit jemand anderem. Meine Eltern stritten sich schon mal und schrien sich an, aber Tanja und Walter lachten miteinander. Nahezu immer.

Einmal habe ich miterlebt, daß die Stimmung anders war. Da muss ich schon in der Schule gewesen sein, ich weiß nicht, warum meine Mutter mich an diesem Tag dort ließ. Tanja und Walter schrien nicht, aber ich spürte, daß etwas anders war. Tanja meinte, das könne so nicht weitergehen, er sei dauernd müde und würde auf der Arbeit noch einen Unfall bauen. Walter sagte nichts, doch wenn Tanja nicht hinschaute, wandte er mir sein Gesicht zu und ließ theatralisch die Augen zufallen und legte den Kopf auf die aufeinandergelegten Handflächen. Fehlte nur dass er schnarchte und ich musste grinsen.

Er könne nicht jeden Tag bis Sendeschluss fernsehen, sagte Tanja, das müsse ein Ende haben. Ich sah Onkel Walter mit großen Augen an. Jeden Tag bis Sendeschluss fernsehen. Er tat, wovon ich nur träumen konnte. Er war ein Held.

Einige Jahre später ließ ich mich tätowieren.

Auch schön
Gekaufte Abenteuer
Es einen Typ Rucksacktouristen, der immer etwas verpasst. Obwohl er perfekt ausgerüstet ist.
Startseite – Zuender. Das Netzmagazin

48 / 2008
ZEIT ONLINE