Reise

Das perfekte Hemd

Man kann nach Indien reisen, um sich selbst zu suchen. Oder man sucht dort das perfekte Hemd.

Der Sonntagstext von Dominik Imseng

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1

Meinen ersten Bettler sehe ich in Madras, er hat einen kostümierten Affen bei sich, den er über einen Stock springen lässt. Ich frage: "Wo gibt es das perfekte Hemd?" Er sagt: "In Mahabalipuram, fünfzig Kilometer südlich von hier. Dort findest du die Seele Indiens."

Ich suche mir einen Fahrer und steige in einen weinroten Ambassador Nova, als die Stadt aufhört, wird die Straße mit Musik beschallt, später lasse ich bei einer Krokodilfarm halten und schaue in einem Nebengebäude zu, wie man aus Schlangen Gift presst.

In Mahabalipuram nimmt der erste Schneider, den ich finde, Maß, dann gehe ich an den Strand und blicke aufs Meer hinaus, hinter mir versinkt die Sonne, für einen Moment ist alles rosa.

Ich setze mich hin und warte, bis es Nacht ist, das geht sehr schnell in diesem Land, auch im Sommer sind die Tage kurz, dann laufe ich am Strand entlang. Aus der Dunkelheit löst sich ein Schatten, darauf ein zweiter, dritter – es sind Rinder, die nach Hause wollen, einen Hirten sehe ich nicht.

Ich kehre zurück zum Schneider und ziehe mein neues Hemd an, dann nehme ich eine Rikscha und lasse mich zu meinem Bungalow fahren, als ich hinein will, tippt mir ein alter Inder auf die Schulter.

Er müsse mich massieren, sagt er, ich habe das nötig, auch meine Seele habe das nötig.

Warum er?

Seine Frau sei fünfundvierzig und er siebzig.

Ich willige ein, seine Hände sind stark und rau, zuletzt massiert er mir die Kopfhaut mit Kokosnussöl, dann sitzt er in einem Sessel und raucht Beedies.

2

Glück ist eine warme Waffe, singt John Lennon, doch viele meiner Freunde sagen: Glück ist eine brennende Zigarette, ein Freund aus Hamburg etwa meinte: "Zigaretten sind wichtig für mich, sie geben meinem Leben Ruhe und Konzentration, aber sie geben ihm auch den Tod. Doch ist das überhaupt ein Widerspruch?"

Keine Ahnung, sagte ich und hörte gar nicht richtig zu, alles, was ich hörte, war, wie mein Freund an seiner Zigarette zog, ein Geräusch, das ich sehr mag, denn es ist so ein leicht schmatzendes Geräusch, obwohl es ja gar kein richtiges Schmatzen ist, mehr so eine Art – mir fehlt jetzt gerade das Wort dafür, jedenfalls: Wann immer ich es höre, wünsche ich, ich würde selbst rauchen, nur um dieses Geräusches willen, obschon mir das die Leute nie glauben, dass ich Nichtraucher bin, die glauben immer, ich rauche, aber ich bin Nichtraucher, schon seit jeher, vielleicht weil meine Kindheit glücklich war, keine Ahnung, ich meine: Warum raucht man überhaupt?

A. gab an, er rauche, weil er sich nach einem harten Sturz mit dem Skateboard so richtig lässig eine anstecken wolle.

B. meinte, das Beste am Rauchen sei, dass man kurz anhalten müsse, um sich im Gehen eine anzuzünden, das sei für ihn so eine Art Sinnbild, nur wisse er nicht, wofür.

C. erklärte, Rauchen helfe ihm, die Dinge richtig einzuordnen, denn habe nicht, genau betrachtet, die Welt in einer Zigarettenpackung Platz?

D. behauptete, gerade gestern mit dem Rauchen aufgehört zu haben.

E. verkündete, er rauche, um sich seinem Großvater näher zu fühlen. Dieser sei Bauer und brauche keinen Kalender, denn die Früchte, die er ernte, verrieten ihm die Jahreszeit. Das habe meinem Freund schon als Kind Eindruck gemacht, und deshalb rauche er, denn so gäben ihm die Zigaretten, die übrig seien, die Uhrzeit an.

F., der Trinker ist, erläuterte, dass er rauche, um zu wissen, wie betrunken er sei, denn wenn er so richtig viel getrunken habe und sich eine Zigarette anzünde, fange er an, innerlich vollkommen auszurasten, so, als gäbe es kein Zentrum mehr.

G., der Dichter ist, sprach vom plötzlichen Wunder des Rauchringemachens, man müsse dazu nur ganz leicht die Zunge nach vorn schnalzen lassen.

H., der Künstler ist, sagte, keines seiner Werke gebe so viel von ihm preis wie die Marke, die er rauche, und die Art, wie er eine Zigarette halte.

I., schließlich, der oft auf Reisen ist, fand, er rauche, damit er damit aufhören könne, wenn ihm ein Land besonders gut gefalle, so bleibe es ihm besser in Erinnerung.

Ich legte auf und dachte: Rauchen kann eine Einladung zum Denken sein, und Denken ist im Grunde nicht so schlecht. Dann zog ich meinen Mantel an, ging hinunter auf die Straße und blieb vor einem Zigarettenautomaten stehen. Eine Packung flog heraus, ihre Oberfläche schimmerte samten, und ich erinnerte mich, dass ein Bekannter seine Freundin verlassen hatte, weil sie eine Marke rauchte, die gerade mit großem Aufwand eingeführt wurde, "Newland" hieß sie oder so, denn dass das Mädchen diese neue Marke rauchte, dass es diesem Werbedruck nicht standgehalten hatte, konnte ihm mein Bekannter nicht verzeihen, und so verließ er es.

Traurig, dachte ich, vom vielen Nachdenken müde, und ging zu Bett.

In der Nacht kam der Regen.

3

"Ich suche das perfekte Hemd", sage ich zu dem alten Mann und zeige ihm das Hemd aus Mahabalipuram.

Er prüft den Stoff, den Schnitt, die Verarbeitung.

"Es gibt bessere", sagt er.

"Wo?"

Er überlegt: "In Pondicherry vielleicht, die Uniformen seiner Polizisten sind untadelig, achten Sie nur einmal auf die Brusttaschen."

4

Besonders gut am Älterwerden ist, dass man sich erinnern kann, zum Beispiel an seine Sommerlieben – Menschen, denen man einmal sehr nahe stand, die man aber mittlerweile völlig aus den Augen verloren hat.

Deshalb hat sich ein Freund von mir vorgenommen, allen seinen fünf Sommerlieben zu schreiben, sobald er seit zehn Jahren nichts mehr von dem betreffenden Mädchen gehört hat.

Der letzte Brief ging vor ein paar Monaten nach Wien. "Ich habe noch ein Bild von dir", schrieb er einem Mädchen, das Manuela heißt, "und, wie ich hoffe, alle Briefe (zehn). Und weil ich kürzlich umzog, fiel mir das Bündel in die Hände, und ich erfuhr, dass du im September 1991 achtzehn wurdest. Und damit jetzt bald schon fünfunddreißig bist."

"Ich kann mich noch gut erinnern", schrieb mein Freund weiter: "Wir aßen zwei-, dreimal in diesem indischen Restaurant, und einmal, eines Abends, gingen wir einfach nicht mehr in unsere Schlafräume zurück, sondern machten uns auf, hielten uns an den Händen und wanderten im Dorf herum. Du erzähltest von deinem Freund, den du nicht mehr mochtest, und ich erfand wohl irgendein Mädchen, um dich zu beeindrucken. Später lagen wir dann in einem Wäldchen und küssten uns, während es immer kälter wurde. Und zuletzt liefen wir zusammen über einen Friedhof, wo ich die Gräber der im Zweiten Weltkrieg Gefallenen suchte."

"Jetzt sehe ich mir dein Bild an", fuhr mein Freund fort: "Du stehst vor dem Sockel einer Statue und trägst eine weiße Bluse, deine Augen sind groß und mandelförmig, darunter hat es bläuliche Schatten, darüber sind die Lider weiß, und um den Hals hast du eine Kette mit deinem Namen drauf. Bevor ich es vergesse: Vor drei Jahren war ich in Wien, wo ich eine Woche in Kaffeehäusern saß und Zeitung las. Einmal habe ich dich sogar im Telefonbuch gesucht und auch gefunden – oder war das der Eintrag deiner Eltern?"

"Liebe Manuela, was ist aus dir geworden?" schloss mein Freund seinen Brief: "Solltest du je in der Nähe sein, dann ruf mich bitte an. Und wenn es dir nichts ausmacht, dann gehen wir fein essen. Vielleicht sogar zu einem Inder?"

Drei Wochen später kam Manuelas Antwort: Sie sei die Sekretärin der Geschäftsleitung einer Pharmafirma, schrieb sie, und habe einen "lieben Freund". Nächstes Jahr werde er mit dem Studium der Betriebswirtschaftslehre fertig, und nebenbei arbeite er bei IBM.

Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass sich mein Freund in jenem Sommer in das falsche Mädchen verliebt hatte.

5

Auf der Straße nach Pondicherry trennen die Frauen die Spreu vom Weizen, zumindest sieht es so aus, und die Männer gewinnen Salz, auch das glaube ich zu erkennen.

In der Stadt angekommen, sehe ich eine Greisin, die sich die Zähne mit den Fingern putzt, ein kleiner Junge hat einen Fuß wie eine Faust, statt zu betteln liegen die Ärmsten nur am Boden, die Luft ist Blei und Staub und Sandelholz.

Ich gehe zum erstbesten Schneider, suche den Stoff aus und lasse Maß nehmen, dann setze ich meine Sonnenbrille auf, obwohl es schon wieder Nacht ist, und laufe in den Straßen herum.

Ein Mädchen wird gelaust und lacht mich an, ein Händler wirft seine Ware in die Luft, aus umgedrehten Regenschirmen werden Unterhosen und von Fahrrädern T-Shirts verkauft, alle paar Meter hält sich jemand ein Nasenloch zu und rotzt.

Ich trinke Mirinda, das Getränk meiner ersten Auslandferien, ich trinke eine Cashewnuss-Milch, ich trinke Kaffee mit viel, viel Zucker, danach ein Kingfisher-Bier und noch eins und noch eins, ich trinke einen indischen Brandy, ich stelle fest, dass sich die Männer hier alle Koteletten wachsen lassen, ich möchte einer schönen Inderin den Nacken küssen, ich merke, wie ich mir andauernd mit der rechten Faust in die linke Hand schlage, plötzlich sehe ich einen anderen Weißen auf mich zukommen, obwohl die Inder ja nicht wirklich schwarz sind, er sieht aus wie Jack Kerouac, für einen Moment könnte ich ihn umbringen, doch dann spricht mich ein japanischer Hippie an.

"Woher bist du?"

"Aus der Schweiz."

"Bist du auf der Suche nach dem perfekten Tag?"

"Nein", sage ich: "Auf der Suche nach dem perfekten Hemd."

Er ist nicht erstaunt, ihn erstaunt nichts mehr, seit drei Jahren lebt er schon in Tamil Nadu und gibt im Monat nicht viel mehr als hundert Dollar aus.

Er sagt: "Der perfekte Tag geht so:

Du wachst auf, mit dem Geschmack von Kirschen im Mund, ganz früh am Morgen, obwohl du nicht früher als sonst zu Bett gingst, im Gegenteil, denn der Vortag war ein Freitag.

Du wachst also auf, machst im Bad das Radio an und hörst dein Lieblingslied. Du summst ein wenig mit und schaust dann auf die Uhr: Es ist genau sechs, was dich nicht erstaunt, denn das ist so am perfekten Tag, dass du nur zur vollen Stunde auf die Uhr schaust. Das rührt daher, dass du dann mit dem Lauf der Sonne harmonierst.

Jetzt gehst du Richtung Küche, wo du eine frische Packung Kaffee aufreißt, den zu einer Art Brikett gepressten Inhalt mit den Daumen geschmeidig machst und ihn zuletzt schwungvoll und ohne zu kleckern in die Dose schüttest.

So.

Danach beginnst du zu frühstücken, und weil jetzt schon die Sonne scheint und dir die Lider wärmt, verharrst du eine Weile mit geschlossenen Augen, einem Brötchen in der Linken und dem Messer mit der Butter in der Rechten, und dabei lächelst du, ein wenig einfältig, sicher, doch ein längst vergessenes Glücksgefühl steigt in dir hoch, und du weißt: Was immer du heute angehst, gelingt.

Solltest du so verwegen sein, eine Stunde Krafttraining auf dich zu nehmen, würdest du immer nur Maschinen wählen, bei denen du die Gewichte mit gelassener Miene erhöhen könntest, denn dein Vorgänger wäre längst nicht so kräftig.

Solltest du fernsehen, brächtest du es zustande, durch bloßes Zappen einen Satz zu bilden, der dir den Sinn des Lebens offenbart.

Und solltest du an Liebe denken, würde im selben Moment eine flaumige Taubenfeder durchs Fenster fliegen und genau vor deinen Füßen landen. Denn so ist er, der perfekte Tag."

"Ich suche das perfekte Hemd", sage ich.

"Geh nach Thanjavur", meint der japanische Hippie: "Das ist eine Tempelstadt."

6

Auf der Strecke nach Thanjavur, ich trage das neue Hemd, hören mein Fahrer und ich Musik aus Tamil Nadu, in den perkussiven Teilen klingt sie wie "The Perfect Kiss" von New Order, einer Band, die man rückblickend als eine der Überschätztesten der Eighties bezeichnen muss.

Ich sehe Frauen, die mit aufgelöstem und noch feuchtem Haar von einem Fluss kommen, Schüler in immer anderen Uniformen, Karren, die von Rindern mit bemalten Hörnern gezogen werden, Zuckerrohrfelder, Reisfelder, Zuckerrohrfelder, Reisfelder. Als ich austrete, merke ich, dass ich auf eine Schlangenhaut uriniere.

"Thanjavur?" frage ich den Fahrer, denn die Gegend wird allmählich städtisch. "Kumbakonam", meint er und lenkt den Wagen durch basarartiges Treiben zu einem Tempel, vor dem sich Schmuckgeschäfte drängen.

Ich gehe hinein und lasse mir die Stirn mit rotem Pulver betupfen, dann warte ich mit drei, vier Pilgern, bis zwei Priester, die wie Türsteher, vielleicht sogar wie Zuhälter aussehen, hinter einem Vorhang hervorkommen und eine Reihe von Statuen beweihräuchern. Nachdem sie die Gläubigen, deren Gebete immer lauter geworden sind, mit einer abfälligen Handbewegung zum Schweigen gebracht haben, verschwinden die beiden wieder.

Als ich mich dem Ausgang nähere, erklingt Trommelwirbel und eine Katze huscht vorbei – die erste, die ich in Indien sehe, angeblich werden sie dort von den jungen Hunden gefressen.

Während der verbleibenden zwölf Kilometer höre ich ein Tape der Pet Shop Boys, überzeugt, dass ich in Thanjavur das perfekte Hemd finde, doch als ich in den Straßen der alten Königsstadt herumlaufe, stelle ich fest, dass die Männer dort Hemden mit den seltsamsten Mustern tragen, und beschließe, unverzüglich nach Madurai aufzubrechen, einer weiteren Tempelstadt, wo es, so lese ich, zweihundert Schneider gibt.

7

Je näher ich Madurai komme, desto mehr Plakate weisen auf Herrenausstatter hin, handgemalte natürlich wie nahezu alle in Indien, was dazu führt, dass jedes Logo ein bisschen anders ausschaut, "Coca-Cola" mal mit mehr und mal mit weniger Schwung, undenkbar bei uns, in Indien aber kein Problem, dort gibt es nicht nur einen Gott.

Madurai ist berühmt wegen eines bestimmten Tempels, dessen Türme Fabelwesen zieren, in seinem Innern gibt es Hallen, Schreine und Arkaden, aus großen Lautsprechern dröhnt es "Om", doch als ich davon eine Kassette möchte, werde ich nicht fündig und beginne schon mich aufzuregen, da nimmt ein alter Mann mit schiefen Zähnen meinen Arm: Er fühle, sagt er, dass ich das perfekte Hemd suche, ich solle ihm nur folgen.

Also laufe ich ihm nach, aus dem Tempel hinaus, vorbei an Frauen, die sich ihre Gesichter gelb gefärbt haben, vorbei an Krüppeln, die auf Händen gehen, vorbei an Bauern, die hinter ihren armseligen Gemüsehaufen hocken und betrete endlich eine Schneiderei, der Besitzer erhebt sich von seiner Singer-Tretmaschine und sagt: "Das perfekte Hemd besteht aus 50% Baumwolle und 50% Seide." Ich entgegne: "Niemals, reine Baumwolle muss es sein, so wie dieses hier." Er befühlt das Hemd, das ich in Pondicherry gekauft habe, und sagt: "100% Polyester, doch Sie wurden nicht betrogen. Sie verlangten wohl den teuersten Stoff, und Synthetik ist in Indien kostbar."

Deshalb lasse ich ihn Maß nehmen und laufe noch ein bisschen rum, bis wir uns auf den Weg zum Hotel machen, einmal fahren wir an einem Bus vorbei, der wahrscheinlich ausweichen wollte, doch in Tamil Nadu sind die Straßen gern von Bäumen gesäumt, es gibt auch häufig keinen Mittelstreifen, noch viel seltener sind Straßenlaternen, das Glas der Scheiben knirscht, als wir darüber fahren, und es liegen zwei Verletzte auf dem Boden.

8

Wenig später sind wir im Hotel, in meinem Zimmer riecht es muffig, auf dem Toilettensitz hat es Urin. Ich ziehe mich aus und mache die Dusche an, als ich eine Kakerlake von gut sechs Zentimetern Länge entdecke, in Marokko waren sie nicht halb so groß, ich hasse Kakerlaken, ich hasse sie wie die Pest, ich weiß, dass sie vor mir Angst haben, dass sie denken, ich selbst sei eine Kakerlake, eine Riesenkakerlake, dennoch hasse ich sie.

Ich stelle die Dusche ab und gehe nackt und tropfend ins Schlafzimmer, wo ich mir ein Glas holen will, um darin die Kakerlake zu fangen, gerade strecke ich die Hand danach aus, als das Licht ausgeht, wie so oft in Indien, deshalb haben die guten Hotels Generatoren, dieses Hotel aber ist nicht gut, sonst hätte es auch keine Sechs-Zentimeter-Kakerlaken, also stehe ich nackt und tropfend in vollkommener Dunkelheit, eine Minute, zwei Minuten, drei Minuten, vier Minuten, nackt und tropfend (das wirst du aufschreiben, denke ich, genau so, wie es jetzt passiert), da geht das Licht wieder an, ich nehme das Glas und kehre ins Bad zurück, immer noch klebt die Kakerlake an der Wand, groß und hässlich, ich versuche, sie zu fangen, doch sie entwischt mir, entwischt mir immer wieder, denn sie ist schnell und kann fliegen, und ich bin nackt und tropfend, auch der Boden ist nass, da, endlich, erwische ich sie, zerquetsche ihr mit dem Glasrand ein Bein, wie verrückt zerrt sie daran, zieht und zerrt immer weiter, während ich ein anderes Glas hole, sie darin fange und hinter die Toilette aus meinem Gesichtsfeld schiebe.

Dann dusche ich zu Ende und trockne mich gerade ab, als ich eine zweite Kakerlake sehe, noch größer als die erste, noch hässlicher als die erste, gottverfickte Scheiße, denke ich, gottverfickte Scheiße, worauf ich mich anziehe und zum Empfang gehe: "The manager, please."

Er kommt, und ich erkläre ihm im besten Englisch meines Lebens ("You must understand me properly"), dass meines Bleibens in seinem Hause nicht mehr sei, er versteht das, versteht das vollkommen und bedauert, bedauert das außerordentlich, dann ruft er mir ein Taxi, während ich mit Absicht auf eine dicke, haarige Spinne starre, die sich hinter ihm ihr Netz baut, immer noch starre ich auf diese Spinne, als der Wagen kommt und mich zurück in die Stadt fährt, vorbei am Pförtner, der hilflos-großartig salutiert, vorbei an einer Million schlafender Rinder, vorbei an jenem Bus, der wahrscheinlich ausweichen wollte, doch in Tamil Nadu sind die Straßen gern von Bäumen gesäumt, abermals knirscht das Glas der Scheiben, als wir darüber fahren, doch ich sehe keine Verletzten mehr.

Wenig später bin ich in einem Luxushotel und erhalte mit dem Zimmerschlüssel die Fernbedienung. Sie ist plastikverschweißt.

9

Der Tag beginnt schlecht, denn ich finde in Madurai weder "101", das Livealbum von Depeche Mode, noch Kassetten von ABC, The Human League oder Blancmange, also höre ich weiterhin die Pet Shop Boys, habe aber das Glück, dass ich zu den Klängen von "Opportunities" ein Slum passiere.

Dann sind wir aus der Stadt heraus, überall wird Ton gebrannt, ab und zu sehe ich christliche Gräber, bis die Gegend hügelig und dann sogar gebirgig wird und wir uns auf einer Straße, die nur mehr aus Schlaglöchern besteht, in die Höhe schrauben, um zuletzt die Grenze nach Kerala zu überqueren und in Kumily einzutreffen, einem Städtchen, das für seinen Gewürzmarkt berühmt ist, und ich weiß nicht warum, aber als ich bei "Mickey Textiles" den Stoff verlange, aus dem die Uniformen der dortigen Polizisten sind – khakifarben, schwer und mit einem Polyesteranteil von 65% –, da fühle ich, dass ich dem perfekten Hemd sehr nahe bin.

Beim Bruder des Textilhändlers lasse ich kurz darauf Maß nehmen, sein Laden heißt "Plit", was in der Landessprache "Bügelfalte" bedeutet, dann besuche ich einen Frisör und bekomme für achtzig Rappen den besten Haarschnitt meines Lebens, das Deckhaar ausgedünnt und angescheitelt, die Seiten kurz, die Koteletten lang. "He just knows", meint mein Fahrer, so wie der junge Miles wusste, wie man eine Krawatte bindet, "he just knows". Dann ziehe ich mein neues Hemd an, es ist perfekt, und lasse mich zum nahen Periyar-See fahren, der in einem Naturreservat liegt und auf dem ich eine Rundfahrt machen will.

Mit ein paar anderen Touristen warte ich auf das Ausflugsboot, während mir immer wieder Äffchen unter das Hemd schauen und ich mir einrede, dass sie nicht dressiert sind, dann gehen wir an Bord und tuckern wenig später an Wildschweinen, Sambarhirschen und Elefanten vorbei. Als ich hoch oben in den Hügeln Tiger entdecke, gebe ich dem Bootsführer 1000 Rupies und verlange, dass er mich aussteigen lässt. Er will nicht. Ich gebe ihm 5000 Rupies, soviel verdient er nicht in einem Monat, einen Augenblick lang zögert er, dann legt er an und ich gehe an Land.

Während ein deutscher Tourist seine Videokamera auf mich richtet, teile ich das Dickicht mit beiden Händen und schlüpfe in den Wald hinein.

Ich bin vollkommen ruhig.

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43 / 2008
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