Nackte Behinderte
"Gewöhnt euch an unseren Anblick!"
Niko von Glasow ist Regisseur und Conterganopfer. In seinem neuen Film zieht er sich mit elf anderen Conterganopfern für einen Aktkalender aus.
Heute startet Niko von Glasows neuester Film NoBodys Perfect in den Kinos. Er zeigt zwölf Contergangeschädigte, darunter auch von Glasow, die gemeinsam einen Aktkalender erstellen. Mit den Nackfotos möchten die Behinderten darauf aufmerksam machen, dass der Pharmakonzern Grünenthal heute keinerlei Entschädigungen mehr für Conterganopfer leistet.
Zuender: Überall Nacktheit. Warum ziehen Sie sich auch noch aus, Herr von Glasow?
Niko von Glasow: Über das Aktfoto kehren wir etwas von unserem Innenleben nach außen. Ich wollte keinen Film über Contergan machen. Ich will von den Menschen erzählen, die mit ihrer Contergan-Behinderung leben müssen. Die Überhöhung ist ein Mittel des Kinos: Wir zeigen die nackte Wahrheit. Hätten wir in Unterhosen dagestanden, wären die Fotos einfach nicht so schön geworden.
Galerie: Die Bilder aus dem Film
Galerie: Die Bilder aus dem Film
Zuender: Woher kam der Impuls zu diesem Film?
Niko von Glasow: Viele Behinderte leiden unter dem angeekelten oder mitleidigen Starren ihrer Mitmenschen in der Öffentlichkeit. Mit dem Film gehen wir in die Offensive. Denn nach 90 Minuten kann man sich mit dem Bild Behinderung anfreunden. Ich wollte dieses Tabu brechen, sowohl für mich als auch für andere. Die Gesellschaft muss sich an unseren Anblick gewöhnen.
Zuender: Also ein politisches Projekt?
Niko von Glasow: Ich bin ein politisch denkender Mensch, aber in erster Linie soll der Film Spaß machen. Der Unterbau des Films ist politisch - und menschlich. Dass wir uns ausziehen war schon irgendwie Zivilcourage. Und ich versuche über unsere Webseite ein Netzwerk aufzubauen. Ich fände ganz toll, wenn in einzelnen Städten Stammtische entstehen würden, wo sich Contergan-Menschen jede Woche treffen.
Im Film erzählt Kim Morton von einem Hungerstreik für die Durchsetzung der Belange von Contergan-Opfern in England, an dem sie teilnahm. Das ist Zivilcourage. Spanische Contergan-Geschädigte wollen sich übrigens öffentlich kreuzigen. Das ist nicht so meine Art. Der Film ist mein Weg.
Zuender: Sind deutsche Contergan-Menschen organisiert?
Niko von Glasow: Es gibt Behindertenverbände, wie den Bundesverband Contergangeschädigter. In der Politik beschäftigen sich die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Karin Evers-Meyer, und ihre Kollegen in den Ländern mit uns. Die milliardenschweren Behindertenstiftungen kümmern sich zwar um unsere Rollstühle, aber nicht um unsere politischen Belange. Es wäre sehr schön, wenn sich beispielsweise die Aktion Mensch auch politisch für uns engagieren würde.
Das Problem ist: Die Verbände in Deutschland sind dominiert von den zufriedenen Contergan-Menschen. Auch in der Contergan-Gesellschaft gibt es Klassen. Die Verbände repräsentieren nicht die ärmsten der armen Contergan-Leute; sie sind die Bourgeoisie. Es geht aber auch nicht nur darum, wie viel wir zum Leben brauchen, sondern um Schmerzensgeld und Gerechtigkeit.
Zuender: Sie sind 48 Jahre alt, ein erfolgreicher Filmemacher. Doch bis heute spricht man von "Contergankindern".
Niko von Glasow: Das ist Diskriminierung! Auch wenn wir ganz possierlich aussehen sind wir keine Kinder mehr. Wir sind erwachsene Menschen.
Zuender: Einige Contergan-Menschen riefen zum Boykott gegen den Hersteller des Medikaments, Grünenthal, auf. Wie stehen Sie dazu?
Niko von Glasow: Ich persönlich würde die Medikamente, die Grünenthal herstellt, nie boykottieren. Und gegen die Luxusprodukte oder Waschmittel der Tochtergesellschaften von Grünenthal darf ich nicht zum Boykott aufrufen. Aber ich persönlich, meine Freunde und wahrscheinlich alle Contergan-Geschädigten sprühen sich nicht mehr mit 4711 oder Tabac ein. Für uns stinkt das Zeug. Aber das ist natürlich kein Boykottaufruf.
Zuender: Der Contergan-Wirkstoff Thalidomid wird heute erfolgreich gegen Krebs und Aids eingesetzt – auch wieder in Deutschland.
Niko von Glasow: Darüber gehen die Meinungen von Contergan-Opfern auseinander. Ich denke, Medikamente gehören unter die Aufsicht von Ärzten. Wenn Thalidomid Menschen hilft, sollte es unter scharfer Kontrolle auch eingesetzt werden.
Zuender: In Brasilien wird Thalidomid als Lepramittel verabreicht. Dort gibt es eine zweite Generation Contergan-Geschädigter. Die Analphabetenrate in Brasilien ist sehr hoch: Frauen sind unzureichend über die Risiken aufgeklärt oder missverstehen das Symbol einer durchgestrichenen Schwangeren auf der Medikamentenpackung. Sie denken, die Tabletten hätten eine verhütende oder abtreibende Wirkung.
Niko von Glasow: Auch Ärzte in den Entwicklungsländern haben eine Aufsichtspflicht. Und wenn ein Medikament Leprakranken hilft, muss es eingesetzt werden. Es kann ja keine Kollektivstrafe über die Welt verhängt werden. Und es gibt viele Medikamente, die von schwangeren Frauen besser nicht genommen werden.
Zuender: Was hat sich durch den Film und die künstlerische Auseinandersetzung mit Ihrer Behinderung für Sie verändert?
Niko von Glasow: Ich bin fröhlicher geworden. Ich bin noch nicht im Nirwana gelandet, aber ein Stück Befreiung hat schon stattgefunden.
Zuender: Was war die größte Herausforderung für Sie?
Niko von Glasow: Das war die Begegnung mit den anderen Contergan-Geschädigten und damit die Begegnung mit meiner eigenen Behinderung. Manchmal schaue ich in den Spiegel und bemerke sie nicht. Wenn ich mich umgucke, sehe ich keinen Behinderten. Vor allem für andere ist meine Behinderung präsent. Aber wenn ich andere Contergan-Menschen treffe, dann ist es ein bisschen wie ein Treffen mit der Karikatur meiner selbst. Erst durch den Film habe ich mit einigen sogar Freundschaft geschlossen. Vorher habe ich Contergan-Menschen gemieden, aber nicht Behinderte an sich. Meine Theorie ist sowieso, dass alle behindert sind. Früher oder später stellt sich heraus, dass jeder eine gravierende Macke hat. Nur bei uns Contis sieht man es halt so deutlich.
37 /
2008
ZEIT ONLINE