Kurzgeschichte

Korn Walden Storman

Aus meinem Dorf sind die meisten meiner Generation gestorben, bevor sie 30 wurden. Ertrunken, Autounfall, Lungenentzündung, Überdosis, Nierenversagen, vom Ehemann mit der Axt erschlagen. Ein paar sind im Knast. Wir übrigen sind allesamt kaputte, gescheiterte Existenzen, um mal ganz offen zu sein.

Von André Pluskwa

"Going where and when I want, doing what I please, oh to live a life of ease" - Michael Holland

"A life without trouble really ain't no life at all" - Michael J. Sheehy

"Wenn ich ab morgen in die Berge müsste, kein Problem." - Townes van Zandt

Ich bin in Storman aufgewachsen. Ein kleiner Bauernlandkreis in Schleswig-Holstein, Dorfidylle, endlose durch Knicks geschützte Kornfelder, Koppeln und Wälder, in denen man sich verstecken und verirren kann. In ihnen habe ich die glücklichsten Tage meiner Kindheit verbracht. Während meine Eltern in der Stadt arbeiteten, war ich in den Wäldern mit meinem Großvater unterwegs, der seinen kleinen abgelegenen Hof damals noch selbst führte und auf dem heute noch seine Frau in der Dachstube wohnt. Diese beiden und meine Urgroßmutter haben mir alle Pflanzen erklärt, mich an die wichtigen Stellen geführt, in ihre Geheimnisse eingeweiht.

Ich muss zugeben, dass meine Kindheit ein grosses Privileg war, ich habe den Fuchsbabys beim Spielen zugeschaut, und es war normal für mich, zu erwachen und Dahmwild vor meinem Fenster äsen zu sehen. Noch heute bin ich in der Lage, bei bestimmten Bedingungen innerhalb kürzester Zeit Waldmeister, viele andere Heilkräuter und gewisse Pilzsorten in jedem beliebigen Laubwald aufzuspüren. Verhungern muss niemand in den Wäldern. Und wer nicht gefunden werden mag und sich nicht zu ungeschickt anstellt, wird auch nicht gefunden.

Hierher bin ich immer nur gekommen, wenn es unbedingt nötig wurde. An einer bestimmten Stelle im Wald, die selbst der Förstereibehörde unbekannt ist, gibt es einen Erdhöhlen-Verschlag, der selbst im kältesten Winter vor der Kälte schützt. Dieser Platz ist sehr alt und wir haben stets darauf geachtet, dass er weder den Goa-Party-Crews noch all den selbst ernannten Neuheiden jemals in die Hände fällt. Sie hätten ihn zerstört, seine Stille, seine Geschichte, seine Kraft. Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin alles andere als ein Esoteriker. Diesen Luxus habe ich mir immer schön verkniffen. Mir ist dieser Ort deshalb heilig, weil er meinem Großvater heilig war. Dort hat er zur Ruhe gefunden, wenn alles zuviel wurde, dorthin hat er sich zurückgezogen, um zu genesen.

Mein Großvater war, wie so viele hier, Alkoholiker. Der Schnaps, genauer, der Korn. Das berühmteste Produkt Stormans ist neben dem Raps und dem Schinken und der Mettwurst der Oldesloer Korn. Bad Oldesloe, die Kreishauptstadt, ist ein hässliches Trabantenstädtchen, das von allen Dörflern gemieden wird. Nur zur alljährlichen Nutzviehschau haben sich stets immer alle eingefunden, an diesem Wochenende waren die Krankenhäuser immer voller Schnapsleichen. Das hat sich inzwischen geändert. Man trinkt gesitteter und lebt seine Alkoholsucht lieber im Privaten, obwohl es natürlich jeder vom anderen weiß. Offene Geheimnisse. Betrunken Trecker zu fahren ist noch nicht einmal ein Kavaliersdelikt, weil es einfach nicht geahndet wird. Sonst hätte keiner der Landwirte noch einen Führerschein.

Als Jugendlicher hat man hier nicht viele Möglichkeiten. Saufen, Heavy Metal, Auto fahren. Schwanger werden und sein Recht einfordern. In die Stadt flüchten und da unter die Räder kommen. Aus meinem Dorf sind die meisten meiner Generation gestorben, bevor sie 30 wurden. Ertrunken, Autounfall, Lungenentzündung, Überdosis, Nierenversagen, in die Häkselmaschine geraten, vom Ehemann mit der Axt erschlagen. Ein paar sind im Knast, dummdreiste Aktionen wie Banküberfälle und Einbrüche in den Getränkemarkt, der eigenen Frau einmal zu oft die Fresse poliert. Wir übrigen sind allesamt kaputte, gescheiterte Existenzen, um mal ganz offen zu sein.

Meine klassischen Entgiftungen in den Kliniken haben mich immer für ein paar Monate mindestens, höchstens aber für 2 Jahre eingenordet, dann begann die Scheiße im Kopf wieder zu kochen. André, so kann das doch nicht weitergehen, sagte meine Mutter einmal, die inzwischen graue Haare hat, und dann immer verweint an meinem Bett sitzt, auf dem ich, noch fixiert, aufwache, mal wieder keine Ahnung, was die letzten 48 Stunden gewesen war. Meine verkrusteten Fingerkuppen und die blauen Flecke überall liessen aber mal wieder einiges vermuten.

Kann sich einer vorstellen, wie absurd es ist, wenn der eigene Sandkastenkumpel mit gezücktem Schlagstock vor einem steht und mit Tränen in den Augen darum bittet, einfach aufzuhören, es nicht noch alles viel schlimmer zu machen und einfach in den Peterwagen einzusteigen?

Aber Muttern hat recht. Es muss ein Ende haben irgendwann. Die Kinder sind bald alt genug, dass sie die Lügen nicht mehr glauben. Wahrscheinlich sind sie es schon lange, ich bin nicht sehr gut darin, das einzuschätzen. Ihre Mutter ist dünn geworden, dünn, verhärtet und traurig. Wo ist nur ihre Sinnlichkeit hin? Ich frage besser nicht. Ihre jetzt blassen, schmalen, zusammengepressten, ungeküssten Lippen sind Antwort genug. Auch sie war bereits ein paar Mal in der Anstalt, es ist halt nicht immer einfach mit mir. Ich habe diese Zeit meist, die Kinder bei den Grosseltern, bei anderen Frauen verbracht, die ich dafür bezahlt habe, dass sie mich anlachen, während ich sie volllalle, den bar ausgezahlten Bankkredit in die Jeans gestopft, die irgendwo auf dem Boden liegt.

Als mein Bankmann mir das erste Mal eine Überziehung verweigerte, habe ich ihn über den Tisch gezogen und daran erinnert, dass wir uns seit über 20 Jahren kennen und er ohne mich nie auch nur einen einzigen Stich gemacht hätte bei den Frauen, die schwule Sau. Beim nächsten Mal habe ich mich natürlich entschuldigt, aber er schüttelte nur den Kopf mit eingefrorener Miene.

Die Fassaden. Das ist ein echter Energieaufwand. Ein paar Artikel für eine Handvoll Magazine, ein Werbetexterjob hier, ein GhostWriting dort, einsame Nächte am Rechner mit ein paar heimlichen Bieren und einem halben Duzend Lines Koks oder Crystal. Ein paar verkackte Familienurlaube. Streit und blanke Nerven auf engstem Raum. Das letzte Mal, in einer Holzhütte in Jütland, schrie mir meine Frau ins Gesicht: Warum gehst Du nicht wieder dahin, wo Du hergekommen bist?

Und ich wusste nicht einmal wohin.

Und dann kommt mir der Chef dieses Magazins mit dem schönen Thema Romantik, gerade als mal wieder so alles richtig im Argen ist. Schön vor Weihnachten alles Geld verpulvert. Eine Frau, die diesmal ganz sicher nicht zurückkommen wird, sie habe ich nun auch endgültig kaputt gekriegt. Die Wohnung ein verdrecktes Chaos, kein Kontakt zu den Kindern. Nur eine über Chats, E-Mails und ein paar geschickt platzierte Telefonate aufrecht erhaltene Scheinwelt. Für wen eigentlich noch?

Ich denke, es gibt keine Romantik in meinem Leben, nur den Kitsch und das Pathos und das Selbstmitleid. Romantik, das ist wie die Hoffnung nur eine weitere weltabgewandte Furcht vor der Wahrheit.

So etwas brauche ich nicht, denke ich, und nehme einen tiefen Schluck aus der Flasche.

Dann höre ich "Crystal Meth Freak from California" von Michael Holland.

Das erste Mal seit Ewigkeiten verspüre ich plötzlich das Bedürfnis, wieder einmal Gitarre zu spielen. Ich beginne mit "Redemption" von Johnny Cash und ende mit "No Place to Fall" von Townes van Zandt.

Dann fasse ich einen Entschluss. Zeit, die Münze zu werfen. Alles oder nichts. Ich schreibe meiner Frau einen Brief.

Ich habe alles verkauft. Den Metal-Scheiss, die Industrial-Clownereien, das Kaputtpunkgedröhne, meine Crowley-Sammlung, die Serial-Killer-Bücher, meine Drogisten-Bibliothek, die Philosophen, die Special-Interest-Bildbände, die Dokus über das Dritte Reich, alles, was nach Dark Researching, Spaß an der (Selbst-)Zerstörung, Weltflucht und Negation riecht, ist rausgeflogen. Das Geld brauche ich für Wichtigeres. Und so sehe ich mich im Wald stehen mit 10 Litern Schnaps, mehreren Gramm Kokain, Einwegspritzen, Trinkwasser, Kohletabletten, Butterkeksen und ein paar Decken.

Heute morgen kam ich in Storman an. Die Welt hatte sich noch im Nebel verkrochen, die Bäume standen wie nackte Riesen darin und aus den Nüstern der Pferde spritzte wie Gischt ihr heisser Atem, als sie aus dem ersten gleissenden Morgensonnenlicht auf uns zu gelaufen kamen, ihre Körper waren so schön warm und die Zeit blieb mir stehen, als sie mir in die Augen schauten.

Sie waren ganz still, voller Vertrauen, der Hund schnupperte an ihren Hufen, es verschreckte sie nicht. Auch ich wurde ganz ruhig, mein Herz schlug endlich etwas langsamer und wir gingen weiter auf die Wälder zu. Auf dem Fluss glitzerte in Rauten das Licht, als die ersten Vögel zu singen begannen.

Kitschig, ich weiß, aber da komme ich her, da gehe ich hin.

Meine Gedanken entkrampfen sich endlich. Was in den heimischen vier Wänden unmöglich erscheint, verflüchtigt sich hier schneller als der Tau auf den Wiesen. Ich streiche diesen mit den Händen ein und wische ihn mir ins Gesicht, so, wie mein Grossvater es mir beigebracht hat. Die Haut strafft und rötet sich augenblicklich und ich sehe wieder etwas gesünder aus. Dann nehme ich mein Handy und werfe es in den Fluss.

Der Hund ist aufgeregt. Er merkt etwas. Er wird sich in den Wäldern bestens selbst versorgen können, um ihn werde ich mir keine Sorgen machen müssen.

Was für eine dumme Idee, wird sie eventuell sagen. Typisch André. Egomanisch, pathologisch und pathetisch. Sich selbst den Dämonen stellen wollen im Wald. Sie für immer austreiben oder sterben. Doch nur eine verkappte Rechtfertigung für einen mehrtägigen Vollrausch und eine Hilfe-Erpressung. Vielleicht vernichtet sie meinen Brief auch ungeöffnet. Pech für mich.

Auch schön
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35 / 2008
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