Sex
Wenn Behinderte Lust haben
Nina de Vries ist eine ehemalige Tantra-Masseurin, die erotische Dienstleistungen für Behinderte anbietet. Sie geht mit Männern nackt baden und erklärt Frauen, wie ein Vibrator funktioniert.
Nina de Vries zündete Kerzen an und legte ruhige Musik ein. Dann zogen sie und der Mann sich aus. Die Holländerin verteilte Öl auf der Haut ihres Kunden und massierte seinen Rücken. Als sie zu den Beinstümpfen kam, massierte sie auch diese.
Abneigung, sagt die Tantramasseurin, habe sie dabei nicht empfunden. "Es war befreiend mich meiner eigenen Angst zu stellen. Ich merkte, dass es keinen Grund gibt weg zu sehen."
Im Jahre 1994 massierte Nina de Vries das erste Mal einen behinderten Mann, seit damals sind vierzehn Jahre vergangen. Heute arbeitet sie fast ausschließlich mit geistig oder körperlich behinderten Menschen. Durch ihre Tätigkeit ist sogar ein neuer Beruf entstanden: Die Sexualassistenz.
Diese richtet sich an Behinderte, die ihre Sexualität anders nicht leben können. An Männer, die nach einem schweren Unfall im Rollstuhl sitzen und keine Partnerin mehr finden. Aber auch an geistig behinderte Frauen, die nicht wissen wie ein Vibrator funktioniert.
Denn viele erwachsene Behinderte haben unerfüllte sexuelle Bedürfnisse. Manche von ihnen grapschen, andere werden traurig oder aggressiv. Doch mit mehrfach Behinderten oder Autisten kann man unmöglich in den Puff gehen.
Zudem gibt es im Alltag zahlreiche ungelöste Fragen: Wie erklärt man etwa einer Autistin zu masturbieren, wenn sie nicht einmal einen Aufklärungsfilm versteht? Oder was macht man mit einem Mann, der gleichzeitig taub und blind ist, aber immer wieder starke Erektionen hat?
Dass es eigene Angebote für behinderte Menschen braucht, wurde de Vries deshalb noch während ihrer Zeit als Tantramasseurin bewusst. Mitte der neunziger Jahre schaltete sie in einem Berliner Stadtmagazin eine Anzeige, die gezielt diese Gruppe ansprach. Fortan kamen Spastiker, Querschnittsgelähmte und Menschen mit Muskeldystrophien in ihr Massagestudio. Die Holländerin war über die große Nachfrage erstaunt.
Bald baten de Vries auch Behinderten-Verbände, ihre Einrichtung zu besuchen. Zahlreiche Briefe und Anrufe erreichten sie. Mit dem Pädagogen Lothar Sandfort entwickelte sie darauf im Jahre 2000 die Sexualassistenz.
Das Konzept ihrer Tätigkeit erklärt sie so: "Um Sexualassistenz auszuüben, muss ich geistig und körperlich behinderte Menschen als sexuelle Wesen annehmen. Dafür brauche ich ein positives Menschenbild und das Wissen über meine eigenen Grenzen." Während der Treffen gibt es daher klare Regeln: Geschlechtsverkehr und orale Kontakte werden nicht angeboten, Masturbation ist aber möglich.
Triebbefriedigung ist allerdings nicht das oberste Ziel. Nina de Vries will behinderten Menschen eher sinnliche und erotische Erfahrungen ermöglichen.
Vor fünf Jahren lernte die Sexualassistentin zum Beispiel eine 32-jährige Autistin kennen, die gerade erst aus der Psychiatrie entlassen wurde. Diese Frau im Genitalbereich zu berühren, kam für de Vries nicht in Frage.
Die Autistin brauchte aber Sexualassistenz, da sie beim Versuch zu masturbieren, regelmäßig scheiterte. Sie war unausgeglichen und neigte zu autoaggressivem Verhalten. Zudem ließ die 32-jährige kaum jemanden an sich heran.
Nina de Vries massierte daher zunächst nur den Rücken der Frau. Als die Autistin über Schreie signalisierte, dass ihr das gefiel, berührte de Vries sie auch am Bauch. Nach mehreren Treffen ging sie mit ihr dann nackt in die Wanne. Zusammen machten die beiden Frauen Töne, streichelten und umarmten sich. Die Autistin lernte sich so selbst zu befriedigen. Und wurde wieder zufriedener.
Mit solchen Klienten zu arbeiten ist für de Vries eine Herausforderung. Jede Massagestunde kann anders verlaufen. Allerdings, sagt sie, gebe es viele schöne Erfahrungen: "Geistig Behinderte sind sehr authentisch und können sich nicht verstellen. Das macht den Beruf spannend."
Doch ihre Arbeit beschränkt sich nicht nur auf erotische Massagen. Nina de Vries gilt als Vorkämpferin für die sexuellen Bedürfnisse von Behinderten. Mehrmals im Jahr spricht sie auf großen Kongressen. Im Jahre 2004 bildete sie zudem zehn Schweizer zum Sexualassistenten aus.
Als Ersatz für Prostitution versteht sie den Beruf nicht. Darum findet sie es auch nicht schlimm, dass Krankenkassen ihre Dienstleitung nicht übernehmen. Schließlich sei Sexualität keine Krankheit und Sexualassistenz keine Therapie. Die Kosten von siebzig Euro pro Stunde zahlen heute meist die Familien der Klienten.
Um sich rechtlich abzusichern, bespricht die Sexualassistentin ihr Vorgehen auch immer mit den engsten Bezugspersonen. Das hat sich bewährt: Zwar haben sich Behinderte schon unglücklich in sie verliebt, gröbere Probleme gab es aber nie.
Nina de Vries übt ihren Beruf deswegen immer noch gern aus: "Niemand soll glauben, dass ich meine Arbeit aus Mitleid mache. Ich schätze es mit Menschen zu arbeiten, die nicht von den üblichen gesellschaftlichen Normen begrenzt sind."
34 /
2008
ZEIT ONLINE