Strassenbau

Tonspuren

Er, Kirchner, schaue jeden Morgen aus dem Fenster des Musikzimmers hinaus und suche den nassen Tonstein und das Gestrüpp nach Bautätigkeiten ab.

Der Sonntagstext von Markus Sehl

aus der Korrespondenz zur Festschrift Leittl

Kirchner
Leittl
Obermann


Warum sie die Straße nicht gebaut haben, das wisse er schon gar nicht mehr, soll Kirchner zu Obermann gesagt haben. Warum man sie nicht die einhundert oder, soll Kirchner gesagt haben, lassen Sie es zweihundert Schritte sein, warum man die Straße nicht um dieses Maß bis zu seinem Haus verlängert habe. An dem Gestrüpp vorbei. An dem nassen Tonstein vorbei. Pardon, soll Kirchner zu Leittl gesagt haben, ich muss korrigieren. Zuerst an dem nassen Tonstein vorüber und dann an dem Gestrüpp vorbei. Aber warum sie die Straße nicht gebaut haben, das wisse er nun wirklich nicht mehr. Er, Kirchner, schaue jeden Morgen aus dem Fenster des Musikzimmers hinaus und konstatiere, dass die Straße nicht gebaut sei. Dass noch nicht einmal Anstrengungen unternommen würden, eine solche alsbald anzulegen. Jeden Morgen schaue er aus dem Musikzimmer. Und betrachte den nassen Tonstein und das Gestrüpp und suche den nassen Tonstein und das Gestrüpp, und den Viehweg, der an dem nassen Tonstein und dem Gestrüpp vorbeiführe nach Bautätigkeiten ab. Oder zumindest nach Veränderungen, die auf baldige Bautätigkeiten schließen ließen. Doch was er, erschöpft und kraftlos von der Nacht, erblicke, seien Bauuntätigkeiten, soll Kirchner zu Leittl gesagt haben. Zwischen dem Gestrüpp finde er Bauuntätigkeiten. An und auf dem nassen Tonstein finde er Bauuntätigkeiten, soll Kirchner zu Obermann gesagt haben. Und auf dem Viehweg, den er Kirchner, hinaufzusteigen habe, seien nur Bauuntätigkeiten gewesen. Und das ihm, der erschöpft und kraftlos von der Nacht an das Fenster des Musikzimmers tritt. Fluchend und wimmernd es mögen Bautätigkeiten zu sehen sein. Alsbald heiter den Viehweg nach Kaltenbach hinunter, vorbei an dem Gestrüpp und auch vorbei an dem nassen Tonstein. Um wieder vorstellig zu werden bei der Verwaltung. Erkundigungen einzuholen, weshalb noch nicht mit den Bautätigkeiten begonnen wurde, und wann mit den Bautätigkeiten wohl begonnen werde. Und nach Mittag vorstellig werden, ob man schon in die Kreisstadt telegraphiert habe, wegen der Bautätigkeiten und auch wegen der Bauuntätigkeiten, soll Kirchner zu Obermann gesagt haben. Und dann in der Dunkelheit den Viehweg hinauf. An dem nassen Tonstein vorbei und auch dem Gestrüpp vorüber. Den Viehweg, hinauf, soll Kirchner zu Leittl gesagt haben. Im kalten Musikzimmer an den Sekretär gesetzt und Niederschriften und Abschriften verfasst. Die Schubladen des Sekretärs aufgezogen und Niederschriften und Abschriften heraus geholt und ausgebreitet. Pläne vom Viehweg. Pläne vom Gestrüpp. Und auch Pläne vom nassen Tonstein. Und Niederschriften zu den Plänen vom Viehweg. Und Niederschriften zu den Plänen vom Gestrüpp. Und Niederschriften zu den Plänen vom nassen Tonstein. Und Abschriften. Und Niederschriften. Um erschöpft und kraftlos vor dem Sekretär einzuschlafen. Und irgendwann aus dem Stuhl zu gleiten. Auf den Boden des Musikzimmers, soll Kirchner zu Leittl gesagt haben. Erschöpft und kraftlos erwache er auf dem Boden des Musikzimmers. An das Fenster des Musikzimmers zu treten. Irgendwann gab es mal Bautätigkeiten, soll Kirchner zu Obermann gesagt haben. Bautätigkeiten unterhalb des Viehwegs. Aber Bauuntätigkeiten beim nassen Tonstein. Und Bauuntätigkeiten beim Gestrüpp. Kirchner soll damals gesagt haben, dass man nicht vergesse, die Straße bis zu seinem Haus zu führen, soll Obermann zu Leittl gesagt haben. Die Straße müsse bis ganz hinaufführen. Die einhundert oder, soll Kirchner  gesagt haben, lassen Sie es zweihundert Schritte sein. Vorbei an dem nassen Tonstein. Und auch vorbei an dem Gestrüpp.
 

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30 / 2008
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