Bewerbung

Assessment Center

"Aha, Herr Dr. von Meyrinck: Der Spitzenreiter ihres Tests ist ein dreiundfünfzigjähriger Alkoholiker, den das Arbeitsamt geschickt hat?" "Ähm, nein. ... ja! ... herrgottnochmal...!"

Von Carsten Fischbach

"Nun Herr Dr. von Meyrinck, was haben sie uns für ein Ergebnis zu berichten?"

"Ich möchte... zu Anfang muss ich..."

"Das dachte ich mir - ich werde dem Vorstand eine kurze Einführung in ihren heutigen Vortrag geben: Der Gewinner unseres jährlichen Einstellungs-Tests ist ein dreiundfünfzigjähriger Alkoholiker."

"Das... das trifft teilweise zu. Nun, aber wir können einen Kandidaten vorschlagen, der dem Profil entspricht."

"Ach so? Beim Überfliegen der Ergebnisse hatte ich einen anderen Eindruck. Wer ist denn dieser Herr Stelter?"

"Oh, der Herr Stelter, der war nur die Kontrollgruppe."

"So, nur?"

"Ja. Wie gesagt, wir können einen Kandidaten vorschlagen, der..."

"Sie möchten gerne den zweiten Sieger nehmen, oder?"

"Keineswegs, es ist nur so..."

"Wollen sie uns das nicht ein wenig näher erläutern? Was ist da vorgefallen?"

"Gut. Ja. Zur Probe, ob unsere Tests der Realität genügen, nehmen wir meist ein oder zwei Kontrollpersonen dazu, die nicht aus dem Bewerberkreis stammen und die auch nicht zum Anforderungsprofil passen. Diese werden durch unseren Test naturgemäß ausgesiebt."

"Diesmal offenbar nicht. Was ist diesmal passiert?"

"Uns fehlte jemand, um die Gruppe zu vervollständigen und wir fragten beim Arbeitsamt an. Dieses schickte uns den - Herrn Stelter."

"Aha: Der Spitzenreiter ihres Tests ist ein dreiundfünfzigjähriger Alkoholiker, den das Arbeitsamt geschickt hat?"

"Ähm, nein. ... ja! ... herrgottnochmal...!"

"Verdammt, wie konnte das passieren!"

"Nun, er hat wider Erwarten alle Hürden gemeistert."

"Und das ist nicht vorgesehen?"

"Wie gesagt, er passt nicht zu unserem Anforderungsprofil, und wenn man sich den ... Herrn ... ansieht... kann man sich schon fragen, wie er überhaupt den Weg durchs Haus gefunden hat."

"Spielte der äußere Anschein beim Test eine Rolle?"

"Nein. Das wurde nicht einbezogen."

"Aha. Schade eigentlich. Aber sie legen schon Wert auf gepflegtes Äußeres?"

"Selbstverständlich! Erst das ermöglicht ein souveränes Auftreten!"

"Aber der Herr Stelter konnte trotzdem irgendwie Punkte sammeln?"

"Das ist ja das erstaunliche: Er hat alle schriftlichen Aufgaben anscheinend mühelos absolviert. Unsere Praktikantin hat ihn bei der Auswertung versehentlich für einen echten Teilnehmer gehalten und seine Ergebnisse voll gewertet sowie..."

"Sie wollen sagen, sie haben ihm versehentlich eine Chance gegeben - und jetzt ist es ihnen peinlich und die Praktikantin ist schuld?"

"Nein, nein. Das ist es nicht allein. Bei den Gruppenaufgaben mussten sich die Teilnehmer gegenseitig bewerten. Der Herr Stelter könnte der Vater unserer Bewerber sein. Anscheinend haben ihm die Teilnehmer aus Mitleid jedes mal die Höchstnote gegeben."

"Diese Hyänen sollen mit irgendjemand Mitleid gehabt haben??? Oh, Verzeihung, das ist mir so herausgerutscht ... also, unsere Bewerber für die Karrierestellen sind normalerweise nicht für ihr Mitgefühl mit den Konkurrenten bekannt."

"Sie haben ihn anscheinend gar nicht als Konkurrenten wahrgenommen."

"... und ihn deshalb versehentlich ehrlich bewertet? Wie schade!"

"Das wäre schon möglich, dass jemand in so einem Fall nicht taktisch denkt."

"So, unsympathisch scheint er demnach nicht zu sein? "

"Das kann und will ich nicht beurteilen."

"Und sie wollen uns nun den zweiten Sieger empfehlen? Oder gar den dritt- oder viertbesten?"

"Dieser Mensch ist Alkoholiker!"

"Das entnahmen sie seinem ungepflegten Äußeren, nehme ich an?"

"Nein. Wir haben ihn beobachtet. Er zückte während der Tests unter dem Tisch verschämt einen Flachmann und trank."

"Na dann. Dafür trinken wir ja weniger, nicht wahr, meine Herren? Außer, wenn es uns schlecht geht. Oder wenn wir Stress haben. Oder nicht schlafen können. Oder um Hemmungen abzubauen. Oder zum Wohle des Geschäfts. Pardon, ich schweife ab. Nun gut, manch einer braucht seinen Spiegel zum Arbeiten. Das mitanzusehen ist nicht schön, kann man aber unter Erfahrung verbuchen."

"Ich möchte als Ergebnis unseres Tests..."

"Und der Herr Stelter hat alle schriftlichen Prüfungen bestanden? Wie lange dauert das? Konnte der Mann sich überhaupt so lange konzentrieren?"

"Er hat die höchste Punktzahl erreicht, überhaupt die höchste seit mehreren Jahren. Wir waren schon erstaunt. Als wir ihn gesehen haben, haben wir ihm nicht viel Hoffnung gemacht. Aber er sagte, er betrachte das als Herausforderung."

"Was so ein wenig Motivation doch ausmachen kann. Sie haben ihn gereizt. Mir gefallen seine Ergebnisse eigentlich sehr gut. Wie viele dreiundfünfzigjährige haben wir denn in den letzten Jahren eingestellt?"

"KEINE!"

"Nicht? Warum denn nicht?"

"Wir HATTEN keine solchen Bewerber! So einer wäre unter normalen Umständen niemals bis ins Assessment-Center vorgestoßen!"

"So? Warum nicht?"

"Er passt überhaupt nicht zu unserem Profil! Und zu ihrem. Das Unternehmen stellt keine Mitarbeiter über dreißig ein - Promovierte im Ausnahmefall bis dreiunddreißig. Das ist Firmenpolitik! Herr Stelter ist dreiundfünfzig!"

"Dann hätte er ja nur noch zwölf Jahre geregelte Arbeit vor sich. "

"Fir-men-po-li-tik!"

"Stattdessen stellen wir dynamische junge Leute ein, die bei erster Gelegenheit zu einem noch dynamischeren Wettbewerber abspringen. Spätestens nach drei Jahren, dafür nehmen sie aber auch alle Erkenntnisse mit, die sie in dieser Zeit bei uns sammeln konnten."

"Das ist der Preis."

"Und warum sollten wir nicht einen alkoholabhängigen Arbeitslosen einstellen?"

"Bitte? Also...! Der Mann ist alkoholabhängig! Und verwahrlost!"

"Aber der Mann ist klüger als alle, die sie uns je angeschleppt haben."

"Das ist noch nicht bewiesen! Die Streuung unserer Tests..."

"... jaja, die Streuung... und er bringt bei Bedarf erstaunliche Leistung.
Vielleicht doch eine Frage der Motivation."

"Alkoholiker sind notorisch unzuverlässig! Sie wissen nie, ob so einer am nächsten Morgen noch zur Arbeit kommt!"

"Na, das unterscheidet ihn nun nicht sehr von meiner Sekretärin - bei der weiß ich das auch nicht. Was hat denn der Herr Stelter gelernt?"

"Der Mann ist anscheinend Wirtschaftsingenieur."

"Ach, dann hat er tatsächlich eine Schule besucht?"

"Mutmaßlich ja. Deshalb hat ihn das Arbeitsamt geschickt. Nur wegen diesem Abschluss. Der Mann hat noch nicht einmal promoviert!"

"Wie furchtbar. Das Arbeitsamt entscheidet also nach Aktenlage, genauso wie sie?"

"Dazwischen liegen ja wohl Welten!"

"Mag sein. Wenn man dadurch einen interessanten Mitarbeiter gewinnt - wie viel mag wohl so ein Entzug kosten?"

"Was? Das ist nicht ihr Ernst?!?"

"Ich meine, wäre das teurer als eines ihrer jährlichen Assessment-Center? Mehrere Tage Klausur, während denen aus zwanzig Hyänen eine nassforsche Spitzenkraft und ein paar skrupellose Debütanten ausgewählt werden?"

"Also, Herr Kollege! Das geht wirklich zu weit! Mehrere hier im Raum haben diese Schule durchlaufen!"

"Jaja, schon gut, ich frage mich ja nur."

"Aber sehen sie sich den Mann an: Abgerissen! Ungepflegt!"

"Ja, das ist ein schwerwiegendes Problem. Wer weiß wie sie nach zehn Jahren Arbeitslosigkeit aussähen?"

"Also, hören sie!"

"Gut, ich verstehe, wir müssten außer dem Entzug auch noch einen Haarschnitt bezahlen. Schreibt jemand mit? Da kommt ganz schön was zusammen."

"Ungepflegt! Das ist hoffnungslos!"

"Was, einen Anzug auch noch? Würden sie mit ihm einkaufen gehen?"

"Ich denke nicht dran!"

"War ein Scherz. So beruhigen sie sich doch."

"Das ist absurd!"

"Ich frage mich, ob wir uns nicht früher an das Arbeitsamt hätten wenden sollen?"

"Es ist ja nicht nur der Anzug! Sehen sie sich seine Zähne an! Die ganze Haltung! Unrasiert zu einem Vorstellungstermin!"

"Ach, DAS haben sie ihm erzählt?"

"Das Arbeitsamt."

"Ein wenig Hoffnung, ein Vorstellungstermin, ein wenig Perspektive - und schon spurt der arbeitslose Akademiker. DAS haben sie ihm erzählt?"

"Das Arbeitsamt."

"Meine Herren! Können wir jetzt endlich zur Sache kommen!?!"

"Wir sind bereits bei der Sache. Ich würde dem Herrn Stelter seine Chance geben. Und wenn es nicht klappt, vielleicht trinkt er am Ende wenigstens nicht mehr so viel. Das wäre ein gutes Werk."

"Einverstanden, Herr Vorsitzender! Bitte! Niemand hier hat Einwände - aber jetzt lassen sie uns end-lich zur Sache kommen! Was ist jetzt mit dem diesjährigen Assessment-Center?"

"In Gottes Namen, wir werden schon irgendeinen Platz für unseren zweiten Sieger finden. Dann soll er eben Karriere machen und diese Trainee-Stelle bekommen, dafür ist der Herr Stelter ja nun wirklich zu alt. Rufen sie den zweiten Sieger rein."

Auch schön
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29 / 2008
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