Religion

Die Diagnose

Ich erinnere mich genau an jenen Tag. An den Moment, als ich zum Arzt sagte: "Ich glaube, ich habe Krebs." Und dass ich es trotzdem nicht glauben wollte, als seine Diagnose mir recht gab.

Der Sonntagstext von André Pluskwa

Glaube. Ein undankbares Thema. Er ist gefährlich. "Glaube ist der intensivste Grat von Gewissheit". Ein Satz, der mich vor Jahren anscheinend fasziniert hat. Ich kann mich an diese Zeit nicht mehr erinnern. Und doch war es so.

Glaube ist Konzept. Ist Selbstkonzept. Ist Selbst- und Weltverständnis. Ist eine Schnittmenge. Als ich, kurz bevor sich unsere Wege trennten, in deine blauen Augen schaute, wussten wir beide, dass du traurig warst. Zumindest vermute ich das.

War es so? Ist eine Bestätigung zwingend erforderlich? Erfordert das Wissen um, der Glaube an eine oder die Bedeutungen von "Holismus", "Egomanie" und "Subjekt" einen Abgleich? Können wir uns das nicht alles schenken?

Menschen mit Idealen sind anstrengend. Trotzdem ist es gut, dass es sie gibt. Ich dachte eine Zeit lang, ich hätte keine Ideale mehr, doch der Schein trog. Sie hatten sich nur geändert. Die Anzahl der Ideale bleibt immer gleich. Ihren Intensitätsgrad aber kann man ändern bis zum Kontrollverlust. Ein ganzes Volk hat an seine Gesundheit geglaubt, hat geglaubt, dass die Welt daran genesen könne, wie kann man also nur von Einzelfällen sprechen. Wir sitzen in einem einzigen Glashaus und Boot.

Alle Überlegungen führen unweigerlich bis kurz hinter die Grenze des Sinngebenden. Dahinter fällt das Los. Ich bringe die kühne Illusion, etwas halten oder gar ändern zu können nicht länger auf. Der Grund allen Lebens zerfällt in abstrakte Flüchtigkeiten.

Ich suche Hilfe auf. In einer Runde hinter Gemeindemauern schwören sie auf die Ikonen des christlichen Flickenteppichs und ich verstehe, dass ihnen wohl dabei ist. Holzstühle ächzen unter den Lippenbekenntnissen derer, die eigentlich Frieden und Verzeihen suchen, der Ort, an dem sie glauben, beides gefunden zu haben, könnte jeder sein, doch hier sind die Initiationen am wirksamsten. Das Fleisch des Herren, wir müssen es tragen. Keiner trinkt. Einer vermutet, dass unsere Bedürfnisse vielleicht verschieden, unsere Sorgen aber die gleichen sind. Ich glaube nicht, dass er recht hat. Ich glaube nicht.

An einem anderen Ort wird mir bewusst, dass Hoffnung vielleicht eine weltabgewandte Furcht vor der Wahrheit ist. Medikamente haben das gesamte Hab und Gut verschlungen und doch verschwinden keine Metastasen.

Ist alles nur eine Frage der Dimension, der Notwendigkeit? Ich beobachte Abgrenzungsmechanismen, die in ihrer Struktur dem Glauben ähneln. Doch es sind nur Revierkämpfe, eine Verheißung wird sich nicht versprochen. Ein besserer Mensch sein wollen ist nicht ein gesunder Mensch sein wollen. Die LOHAs hören auf, solche zu sein, wenn die eigene Existenz gefährdet ist. Bildung und Biographie bedeuten nichts im Kampf ums nackte Überleben. Musik hilft nicht.

Die Strohhalme erscheinen in bizarren Formen, Steine und Strahlung, Pulver und Sirup. Einmal inhaliere ich direkt aus einem sehr alten Gefäß die Luft, die dereinst ein Gott bereits geatmet hat. Sie schmeckt nicht abgestandener als die der Wartezimmer. Nur haben böse Geister deren Ecken geschwärzt wie die Zigaretten mein Zuhause und die Kapillaren. Ich nehme noch einen tiefen Zug aus der Urne und atme die Asche mit ein. Mein Husten benetzt den Stein mit winzigen Blutsprenkseln.

Krebs ist die Revolution der Zelle. Sie verselbstständigt sich. Die Autoaggression beginnt bei ihrer Nichtversorgung mit Glücksgefühl. Die Hormone fließen nicht. Nun entsagt die Zelle dem System und beginnt autark zu existieren. Ich denke an Frauen, die als Kind vergewaltigt wurden. Nun zerfrisst es ihre Eierstöcke. Sie glauben nicht, dass sie es wert wären. Denke an den stillen Kerl von nebenan, der stets alles in sich hineingefressen hat und sich nicht wehrte. Seine Speiseröhre ist nicht mehr zu retten. Hätte er doch vielleicht nur einmal aufbegehrt. Hätte ich doch nur den Mut gefunden und mir die Zeit genommen, einmal tief durchzuatmen. Aber ich glaube, es hätte nichts geändert. Glaube ändert nichts. Glaube tötet und erschafft kein Leben.

Und dann erzählt mir ein alter Schauspieler, dessen Rückenmark metastasenverseucht ist und der seine Hoden bereits vor Jahren verloren hat, dass er endlich seine Lebenslüge gebeichtet hat. Dass er schwul ist und seine Frau, die unter Depressionen leidet und in deren Kleinhirn vor kurzem ein Tumor gefunden wurde, damals nur geheiratet hat, um diesen karrieristischen Makel zu vertuschen. Dass er sich seit dieser Beichte befreit fühlt. Dass die Gerinnsel sich offenbar zurückbilden. Er erstarkt wieder. Seine Frau hat über all die Jahre nie etwas in diese Richtung vermutet, sie erfährt davon aus der Zeitung. Sie hätte immer so gern ein Kind gehabt. Ihr Zustand verschlechtert sich. Als ihn die Schuld unvermittelt in ihr, in sein inneres Gefängnis zurück holt, kehren auch die Metastasen zurück. Jetzt geht alles sehr schnell: Innerhalb eines Monats sterben beide. Glaube versetzt Berge, in der Tat.

Ich erinnere mich an die Zeit, in der mich eine erste Ahnung beschlich.

Erinnere mich an den Moment, in dem ich das erste Mal Blut hustete. Ich konnte es nicht länger leugnen. Die Gewissheit war da.

Ich erinnere mich genau an jenen Tag. An den Moment, als ich zum Arzt sagte: "Ich glaube, ich habe Krebs." Und dass ich es trotzdem nicht glauben wollte, als seine Diagnose mir recht gab.

Erinnere mich an die Zeit, in der ich darauf vertraute, dass dem Problem mit bloßer Willensstärke beizukommen sei. Leider braucht man dafür einen langen Atem, wie man so schön sagt.

Manchmal ist Glaube Fleisch gewordene Wahrheit. Als ich, kurz bevor ich dich verließ, in deine blauen Augen schaute, glaubte ich zu sehen, dass du es wüsstest. Dabei habe ich dir nichts gesagt. Ich möchte nicht, dass du mir beim Sterben zuschaust. Ich habe angst, dass dann auch etwas in dir stirbt. Und dann für sich weiterlebt. Und daran möchte ich nicht einmal denken.

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18 / 2008
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