Armut
"Draußen sind wir alle Zigeuner"
Drei Künstler aus Österreich haben einen Reiseführer für ein Belgrader Elendsviertel geschrieben. Ein Interview mit zwei der Autoren
Nahe des Flusses Sava, eingeklemmt zwischen einer Autobahnbrücke und den Bahngleisen nach Zagreb, liegt das Viertel der Kartonsammler.
Beograd Gazela
, eine Siedlung aus Baracken und Hütten. Keine festen Straßen, keine Wasseranschlüsse, keine sanitären Anlagen und der Strom wird illegal gezapft.
Alle Bewohner sind Roma und während der Kriege auf dem Balkan hierher geflohen.
Tausende Menschen fahren täglich vorbei an Gazela, in die Siedlung hinein geht von ihnen fast niemand. Die Siedlung ist ein blinder Fleck in der Mitte der serbischen Hauptstadt.
Die Künstler Lorenz Aggermann, Can Gülcü und Eduard Freudmann wollen das ändern und haben das Buch
Beograd Gazela
veröffentlicht, einen Reiseführer durch den Slum. Komplett mit Anfahrtsweg und praktischen Tipps. So wollen sie dort Wissen schaffen, wo bisher nur Vorurteile sind. Wie kann das gelingen?
Galerie: Reiseführer durch Beograd Gazela
Galerie: Reiseführer durch Beograd Gazela
Galerie: Reiseführer durch Beograd Gazela
Zuender: Es gibt viele Elendsviertel, auch in Europa. Warum geht es in Ihrem Projekt um die Siedlung
Gazela
in Belgrad?
Eduard Freudmann:
Als wir 2005 an einer Ausstellung in Belgrad teilgenommen haben, fiel uns auf, wie präsent die Roma aus den Elendsvierteln im Stadtbild sind. Außerdem ist Gazela die exponierteste Armensiedlung in Belgrad, jeder, der in die Stadt fährt, hat Gazela gesehen. Zusätzlich inspiriert hat uns das Projekt „Under the Bridge“ der Künstlers Alexander Nikolic, Renate Rädle und Vladan Jeremic, das unter anderem in Gazela stattfand.
Zuender: Wie haben Sie sich vorbereitet auf den Aufenthalt in der Siedlung?
Can Gülcü:
Zunächst haben wir versucht, Informationen zu sammeln, über Elendssiedlungen in Belgrad und die Stellung der Roma in der serbischen Gesellschaft. Im Sommer 2005 sind wir erstmals nach Belgrad gefahren, um Repräsentanten von Hilfsorganisationen zu treffen. Die Informationen, die wir da bekommen haben, waren aber nicht viel wert. Wir hörten die bekannten rassistischen Vorurteile. Auch Literatur zu den Elendssiedlungen in Belgrad gab es kaum, deshalb sind wir dann selbst in die Siedlungen gegangen.
Eduard Freudmann:
Wir haben auch mit Wissenschaftlern und Politikern gesprochen. Die warnten uns, es sei gefährlich in der Siedlung, wir hätten einiges zu befürchten. Diese Warnungen haben sich als unbegründet erwiesen.
Zuender: Gab es Konflikte mit Bewohnern, als Sie in die Siedlung gekommen sind?
Can Gülcü:
Nein. Die Bewohner haben uns herzlich aufgenommen. Wir haben versucht, sie nicht unter Druck zu setzen und ihnen Bedenkzeit gegeben, bevor sie mit uns reden.
Eduard Freudmann:
Im Gegensatz zu vielen serbischen Journalisten sind wir betont höflich auf die Bewohner der Siedlung zugegangen. Wir wollten nicht einfach nur schnell irgendein Statement aus Ihnen herauslocken.
Zuender: Die Recherche dauerte insgesamt mehrere Monate. Wurden Sie während dieser Zeit in die Gemeinschaft der Siedlung integriert oder blieben Sie Fremde?
Eduard Freudmann:
Wir sind natürlich immer „die von draußen“, weil wir die Möglichkeit haben, die Siedlung jederzeit zu verlassen, in den Wohlstand zurückzukehren. Das können die Bewohner nicht. Wir haben uns nie der Illusion hingegeben, in dieser Hinsicht auf einer Ebene mit den Bewohnern agieren zu können. Während unserer Aufenthalte sind aber dennoch einige persönliche Beziehungen entstanden.
Can Gülcü:
Das hat auch mit unserer Methode zu tun. Wir haben keine Interviews geführt, eher Gespräche. Ohne zuvor einen bestimmten Fokus festzulegen oder ein bestimmtes Ziel vorzugeben. Es konnte über alles und jeden gesprochen werden.
Zuender: Mit welchen Emotionen haben die Bewohner darauf reagiert, dass ihr Leben im Elendsviertel in ein Buch kommen soll?
Can Gülcü:
Viele fanden es interessant, sich mit jemandem zu unterhalten, der aus der Siedlung heraus berichten möchte und sich dafür viel Zeit nimmt. Aber es gab auch Bewohner, die sich schämten, unter solchen Umständen zu leben.
Eduard Freudmann:
Man kann auch nicht von DEN Bewohnern sprechen, dafür sind sie zu verschieden. Sie unterscheiden sich in ihrer Herkunft, sozialen Stellung und politischen Position. Der Großteil der Bewohner ist aber überzeugt, dass der momentane Zustand Unrecht ist und nicht sie selbst die Schuld daran tragen. Menschen von außen sollen deshalb erfahren, wie es in der Siedlung zugeht.
War es deshalb besonders schwierig, diese Vielfalt im Buch angemessen darzustellen?
Eduard Freudmann:
Beim Schreiben war das schon eine große Herausforderung. Wir haben oft über einzelne Formulierungen diskutiert. Und wir haben sehr stark darauf geachtet, nicht zu verallgemeinern.
Can Gülcü:
Die Diskrepanz zwischen Innen- und Außenwelt ist groß. Ein Bewohner fasste das mit den Worten zusammen: „Außerhalb der Siedlung sind wir alle Zigeuner.“
Zuender: Das Projekt wurde unter anderem von der Stiftung einer großen österreichischen Bank gefördert. Unternehmen und Organisationen setzen soziales Engagement und Kunstförderung oft dazu ein, das eigene Image aufzupolieren. Kann man sich als Künstler vor einer Instrumentalisierung durch die Förderer schützen?
Can Gülcü:
Klar ist, dass man ein künstlerisches Projekt irgendwie finanzieren muss. Und sobald man sich mit Geldgebern einlässt, wird man durch diese instrumentalisiert. Solch eine Instrumentalisierung kann man vielleicht ansprechen und reflektieren, wie wir das im Buch machen. Aber vermeiden kann man sie nicht.
Eduard Freudmann:
Die einzige Möglichkeit, sich einer Instrumentalisierung durch Geldgeber zu entziehen, wäre, sich dem Kunstmarkt zu entziehen. Und zwar völlig. Damit würden nicht nur geförderte Projekte wie unseres unmöglich, auch der traditionelle Galeriebetrieb wäre am Ende.
Zuender: Ihre Beobachtungen sind nur eine Momentaufnahme der Situation in Gazela. Was ist seitdem passiert?
Can Gülcü:
Die Siedlung verändert sich ständig. Seit kurzem gibt es eine Wasserstelle in der Siedlung, was natürlich die Lebensumstände erheblich verbessert.
Eduard Freudmann:
In diesem Frühjahr sollten die Bewohner von
Gazela
umgesiedelt werden. Die Aktion wurde abgesagt, wie andere zuvor. Trotz dieser negativen Erfahrungen verbinden die Menschen in
Gazela
immer wieder große Hoffnungen mit solchen Vorhaben. Und das, obwohl nie klar ist, was die Behörden mit ihnen vorhaben. Da es kaum offizielle und vertrauenswürdige Informationen gibt, entstehen sofort Gerüchte: Wer darf mit, wer nicht? Wo geht es hin? Was erwartet uns dort?
Zuender: Ein Pendeln also zwischen Hoffnung und Angst.
Eduard Freudmann: Ständige Angst vor allem um den Lebensraum. Denn es gibt keine Garantie, dass bei einer Umsiedlung jeder Bewohner ein neues Zuhause bekommt. Das prägt sehr stark den flüchtigen Charakter von Gazela und wirkt sich zum Beispiel auch auf die Bauweise der Behausungen aus. Wenn ich davon ausgehen muss, dass jederzeit ein Bulldozer die Hütte niederreißen könnte, investiere ich natürlich so wenig Arbeit und Geld wie nötig.
Eduard Freudmann:
Die erste Umsiedlung sollte an den äußersten Rand Belgrads führen, ist aber geplatzt, da es Proteste von Anwohnern gab. Bei der bis vor kurzem geplanten neuen Umsiedlung wurde deshalb der Zielort geheim gehalten. Wahrscheinlich ist aber ein Ort außerhalb der Stadtgrenzen Belgrads vorgesehen.
Can Gülcü:
Mit solch einer Umsiedlung an die Peripherie der Stadt würde man den Bewohnern die einzige wirtschaftliche Grundlage rauben, die sie haben. Zurzeit sammeln die meisten Altstoffe und verkaufen diese an Großhändler und in den umliegenden Stadtteilen. Draußen in der Pampa geht das nicht.
Zuender: Ist für die Bewohner von Gazela alles außerhalb der Siedlung ein Raum der Angst?
Can Gülcü: In der Umgebung von Gazela gab es mehrere gewälttätige Angriffe. Deshalb gehen die Bewohner ab einer bestimmten Uhrzeit nicht mehr aus der Siedlung heraus. Aber es gab auch schon Angriffe innerhalb des Siedlungsgeländes. Banden sind eingedrungen, haben Menschen geschlagen und Häuser demoliert.
Zuender: Werden solche rassistischen Taten bestraft?
Eduard Freudmann: Schwierig. Für die Behörden existieren die meisten Bewohner von Gazela gar nicht, da sie nicht einmal die wichtigsten Dokumente besitzen: Einen Ausweis, Meldebestätigung oder Reisepass. Ohne diese Dokumente außerhalb der Siedlung zu leben oder zu arbeiten, ist unmöglich. Doch auch mit den wichtigsten Dokumenten ausgestattet gelingt es kaum jemandem, das Stigma Elendssiedlung jemals abzulegen.
Eduard Freudmann:
Dazu kommt wieder Angst, nämlich vor der Bürokratie, der Verwaltung, der Polizei. Beide Ängste haben den selben Ursprung: Rassismus.
14 /
2008
ZEIT ONLINE