Abschlussarbeit

Die Kunst der Ablenkung

Die Muster auf dem Teppichboden sind interessanter als meine Examensarbeit, ich beschäftige mich drei Stunden damit. Dann entdecke ich die Kacheln im Bad.

Das Tagebuch eines Examenskandidaten. Von Sebastian Dalkowski

Tag 1
Beginne mit meiner Magisterarbeit. Bin irritiert, dass mein Vermieter nicht gerade jetzt umfangreiche Baumaßnahmen ausführen lässt. Rufe ihn schließlich an und frage ihn, warum er nicht gerade jetzt umfangreiche Baumaßnahmen ausführen lässt. Er zeigt Verständnis und verspricht, sein Bestes zu tun.

Tag 2
Werde von Baulärm geweckt. Na also, geht doch.

Tag 3
Kann nicht arbeiten. Der Baulärm ist unerträglich. Warum muss der Vermieter auch gerade jetzt umfangreiche Baumaßnahmen ausführen lassen?

Tag 11
Lese seit fünf Stunden Sekundärliteratur. Stelle fest, dass Fußnoten mich aggressiv machen. Beschließe, nur noch jedes dritte Wort zu lesen. Muss reichen.

Tag 12
Reicht nicht.

Tag 27
Weiter Baulärm. Gehe in die Bibliothek, weil ich hoffe, mich da besser konzentrieren zu können. Muss aber feststellen, dass tausend kleine Geräusche schlimmer sind als ein großes. Wer nicht hustet oder flüstert oder sich räuspert, putzt sich die Nase.   

Tag 41
Gehe zu meinem Professor in die Sprechstunde. Frage ihn, ob er nicht irgendwelche Tipps für mich habe. Er sagt: "Wenn man leere Zahnpastatuben aufschneidet, reicht das noch für mindestens eine Woche."

Tag 42
Verletze mich bei dem Versuch, eine Zahnpastatube aufzuschneiden, schwer.

Tag 67
Das Telefon klingelt. Ich hebe ab. Eine Frau ist dran. Erst als sie "Schatz" sagt, fällt mir ein, dass ich eine Fernbeziehung führe. Muss die Frau sein, die auf den Fotos über meinem Bett zu sehen ist. Muss noch irgendwie an ihren Namen kommen.

Tag 68
Rufe mit verstellter Stimme meine Freundin an. "Hallo, ich rufe im Auftrag des deutschen Instituts für Vornamen an. Wie heißen Sie denn?" Meine Freundin antwortet "Du Idiot". Immerhin besser als Chantalle.

Tag 78
Finde, dass die Muster auf dem Teppichboden interessanter sind als meine Examensarbeit. Beschäftige mich drei Stunden damit. Dann entdecke ich die Kacheln im Bad.    

Tag 83
Gucke auf den Kalender und zähle, wie viele Tage mir noch bleiben. Beschließe, dass Kalender blöd sind, weil sie einen so unter Druck setzen.

Tag 89
Zähle die Seiten, die ich schon geschrieben habe. Erst ab Schriftgröße 48 macht mir das Spaß.

Tag 96
Beschließe, dass ich einen Tag Pause verdient habe, um mich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Verletze mich bei dem Versuch, eine Zahnpastatube aufzuschneiden, schwer und gucke mir bis abends die Kacheln im Bad an.

Tag 104
Haue verzweifelt Buchstabenkombinationen in die Tastatur. Denke darüber nach, ob die Maxime "Alkohol ist keine Lösung" wirklich Allgemeingültigkeit beanspruchen darf. Frage im Kiosk um die Ecke nach. Der Kioskbesitzer verneint das entschieden.

Tag 109
Arbeite auch nachts und höre Death Metal, um mich wachzuhalten. Als das nichts hilft, lade ich mir aus dem Internet Kettensägengeräusche runter. Stelle aber keinen Unterschied fest.

Tag 114
Habe seit 72 Stunden nicht geschlafen. Bin irritiert, als mir meine Nachbarin im Flur begegnet und sagt "Du siehst auf einmal so viel jünger aus."

Tag 120
Heute ist der Tag der Abgabe. Verstehe nicht ganz, warum da eine fertige Arbeit auf dem Tisch liegt. Wer beschäftigt sich denn mit so einem Unsinn? Stelle fest, dass mein Name draufsteht. Gebe die Arbeit im Prüfungsamt ab. Als ich zurückkomme, sagt ein Handwerker genervt: "Wird auch Zeit, dass Sie fertig werden. Wir haben auch noch andere Dinge zu tun."

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13 / 2008
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