Leben
Winter
Abends erhielt ich einen Anruf von einem alten Bekannten. Schon Tags darauf verfluchte ich meine Entscheidung.
22:27
Während man in der Küche neben mir mit einem Pfeifen auf den Lippen
das nackte Hühnchen (es war wohl eins) zerhackt, vereint sich das
immer wieder kehrende, scheppernde Geräusch des Messers mit den
Kirchturmglocken (wo kommt das eigentlich her?). Dabei sehen meine
Vorhänge im Licht der Nacht und des Schnees aus wie Wolken, die ein
strahlendes Leuchten an die Wände links und rechts abgeben. Dazwischen
immer wieder fremde, asiatische Gesprächsfetzen. Kinderlachen von
draußen und eine Ansammlung von ca. 10.000 Punkten auf meinem kleinen
Kissen, je länger man hinschaut, desto mehr Figuren ergeben sich - wie
bei Wolken.
07:02
Der Morgen war grau, aber nicht unangenehm. Eher wattig und träge in
seiner scheinbaren Unbeweglichkeit. Ich fühlte mich leicht und schwer
zugleich, denn weder mein schönes neues Leben, noch das alte, dessen
Reiz völlig verschwunden schien, ließen mich los. Ich lag noch im Bett
und der Kopf schwindelte mir von Müdigkeit - gleichzeitig wusste ich,
dass ich nicht mehr schlafen würde. Mit dem festen Vorsatz ein
Frühstück zu genießen, stand ich schwungvoll auf. Doch wie so oft,
wenn es wirklich hell geworden war, war der Zauber der sanften
Trägheit vorbei und nur ein toskanischer Morgen hätte diesen ersetzen
können - ich sollte wirklich wieder nach Italien. Das am Morgen so
unglaublich gleißende Licht und die von der Glut der Sonne erhitzten
Tage fehlten mir. Es erinnerte mich an römische Zeiten - unendlich
lange schienen sie bereits vergangen und dennoch war es, als könnten
die menschlichen Götter sich jederzeit wieder erheben und ganze Völker
dem Tode weihen, während sie in prachtvollen Palästen alle
Ausschweifungen des Lebens kosteten.
07:34
Ohne Eile füllte ich den Wasserkocher und meine Lieblingstasse (als
Motiv diente die Skyline irgendeiner Großstadt - wie technokratisch)
mit Schokocapuccino und Zucker. Dieser Cocktail würde mich hoffentlich
auf den Boden der Tatsachen zurückbringen. Dem war nicht so. Immer
noch leicht in Gedanken begann ich meine kleine Welt zu sortieren.
Fast jeden Tag dasselbe Spiel, aber es tat gut Ordnung in das große,
schöne Zimmer zu bringen, sah es doch danach noch besser aus.
Eigentlich müsste ich spätestens jetzt melancholisch werden, dachte
ich, aber wie so oft, geschah einfach nichts.
Mein Studium rief. Sosehr ich mich auch an diesem Tag bemühte für die
Prüfung zu lernen, umso mehr geriet ich in Zerstreutheit ob meiner
fehlenden Affären, die sich leider in meinem allgemeinen Gemütszustand
nieder schlugen. Entsprechend war meine Laune - unausgeglichen und
nervös. Viel zu nervös. So schaffte ich es dann aber auch über den
Nachmittag.
19:46
Abends erhielt ich einen Anruf von einem alten Bekannten - er wohnte
auch in Berlin. Sollte ich wieder die alten Fehler begehen? Ich nahm
ab. Tags darauf verfluchte ich die Entscheidung, ihn in meinem Bett
schlafen zu lassen - es war nur 90 Zentimeter breit. Aber gut - ich
ließ ihn weiter schlafen, eilte zu meinem Termin und nahm mir fest vor
das Bettzeug zu wechseln - und zwar noch heute. Leider stellte sich
das vorabendliche Erlebnis als kaum brauchbar dar - hatte ich doch den
ganzen folgenden Tag keinen dieser Momente in der U-Bahn. Mit etwas
Anstrengung gelang es mir zwar wenigstens so zu tun, als ob ein
kleines, schmutziges Geheimnis meiner Unterhaltung diene, jedoch gab
ich diesen Versuch von schnöder Selbsttäuschung bald auf, um genau zu
sein, als ich die Bettwäsche entsorgte.
18:17
Zu Hause angekommen war ich stolz ob meiner leeren Wohnung, besser
gesagt, dankte ich mir im Stillen, dass er weg war. Allein schon der
seltsame Geruch eines Bettes, in dem ein Mann geschlafen hat. Ich
widmete mich also erfreulicheren Dingen - dem Studium und meinen zwei
Mitbewohnern. Ich als Frau konnte ja schon gar kein Klischee erfüllen,
aber zu dritt waren wir nicht schlecht im Bedienen solcher. Der
süßliche Geruch, der vom Flur in mein Zimmer drang, lockte mich heraus
aus meinem Schlamassel und hinein in die Welt der Jungs. Was ich seit
jeher an Freundschaften mit Männern so schätze, ist vor allem ihre
(scheinbare) Verschwiegenheit - sie würden nie auf die Idee kommen
mich auf nächtliche Besucher oder ähnliches anzusprechen. Und wenn,
wäre ich sehr schockiert, muss ich gestehen.
06:51
Der nächste Tag verhieß nichts Gutes - graue, wenig einladende Wolken
frühmorgendlichen Lichtes fluteten mein schönes Zimmer und tauchten es
in eine schreckliche realistische Atmosphäre. Zu allem Überfluss lagen
draußen mehrere (!) Zentimeter Schnee und dicke Flocken tanzten im
Schein der Straßenlaterne direkt vor meinem Fenster. Das gab mir den
Rest. Umso schlimmer war dann auch das morgendliche Prozedere. Während
ich noch den Schnee verfluchte, dachte ich an Sommer und den Strand
und meine braune Haut und wie wunderbar das alles werden würde - das
ich zeitgleich Uni haben würde und arbeiten müsste, blendete ich
vorsichtshalber aus, um meine Aufmunterung nicht zu beeinträchtigen.
Trotz schlimmer Schneewehen und Unmengen von zerschmolzenen Flocken in
Haaren und Gesicht ging ich motiviert in die Uni. Beseelt von dem
Gedanken mich zu bilden, betrat ich dann auch mit einem Lächeln das
alternde Gebäude.
52 /
2007
ZEIT online