Bundesjugendspiele 6

Wenn der Schlagball eine Handgranate wär...

...dann wäre ich längst tot. Von Mathias Richel (Sohn eines geförderten Sportschülers und Spartakiadesiegers der DDR im Gewichtheben)

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In meiner gesamten Schulzeit habe ich mich mehr schlecht als recht durch den Schulsport gequält. Ich war nie von sonderlich muskulöser Gestalt, so dass ich im ambitionierten DDR-Sport keine Chance hatte. Ich versagte in den Kraftsportarten und verstolperte beim Fußball. Ich war beim Stangenklettern so langsam, dass meine Klassenkameraden in der gleichen Zeit am Reck und am Boden benotet werden konnten. Beim Schlagballweitwurf und beim Keulenwerfen, was beides der vormilitärischen Ausbildung zum Granatenschmeißen diente, schaffte ich bei Rückwind gute zwölf Meter. In einer imaginären Schlacht mit dem imperialistischen Klassenfeind hätte dies meinen sicheren Tod bedeutet. Mein Leben rettete nur, dass Kindersoldaten auch in der DDR nicht en vogue waren.

Ich hatte aber etwas, das mir in diesen peinlichen Momenten der Zurschaustellung meiner physischen Defizite immer das Leder rettet: meine große Klappe.

Ich wurde nie als letzter in irgendwelche Mannschaften gewählt, sondern schon immer zähneknirschend im guten Mittelfeld den einzelnen Teams zugeteilt. Das hatte einen einfachen Grund. Wer lachte, mich schnitt, oder mich aus Versehen bei der Wahl übersah und somit ins Abseits brachte (gleich neben den dicken Ronny und die ungelenke Julia) musste damit rechnen, in der Folge die unangenehmsten Schulstunden seines Lebens zu erleben. Denn in den anderen Fächern stand ich immer ganz gut da. Ich wusste oft immer genau das Quäntchen mehr, das meinen Mitschülern zu einer schlauen Antwort fehlte. Darauf machte ich dann nur zu gern meine Mitschüler und Lehrer aufmerksam. Garniert mit der einen oder anderen Pointe rund um den Geisteszustand meines Opfers, oder den seiner Familie.

Ich wurde geliebt für meinen Witz und gefürchtet dafür, dass dieser jeden treffen konnte. Das war mein Garant für einen relativ entspannten Sportunterricht in der Grundschule. Nur einmal im Jahr ging dieser Plan nicht auf: beim Schulsportfest im Stadion der Freundschaft . Es gab echte Medaillen, Urkunden und so manche geplatzte Trinkflasche, weil die eine oder andere unachtsame Mutter Brause als Erfrischung für die lieben Kleinen wählte. Es war ein Graus.

Hier zeigten sich die Emporkömmlinge der Sportbildung der DDR. Hier wurden Konkurrenz und Neid geschürt, hier wurden Legenden geboren. Und die Namen der Besten über die Stadionanlage verlesen. Jeder wollte genannt werden, jeder wollte eine Medaille, oder wenigstens eine Urkunde. Aber auf gar keinen Fall wollte man aber in irgendeiner Disziplin Letzter werden.

Ich wurde es regelmäßig in gleich dreien: Hundertmeterlauf, Kugelstoßen und Schlagballweitwurf. Die Schmach war grenzenlos und die über die Stadionanlage verlesenen Namen der Sieger übertönten meine Witze. Es galt nur das Ergebnis. Es war jedes Jahr dasselbe, jedes Jahr der gleiche Schmerz. Ich allein, mit den niederschmetternden Ergebnissen meines Unvermögens und gestraft mit der Nichtbeachtung meiner Mitschüler.

Nur ein einziges Mal habe ich es ihnen allen gezeigt. Einmal habe ich das System geschlagen. Ein einziges Mal wurde mein Name im Stadion genannt. Es war der denkwürdige Tag in meinem sechsten Schuljahr. Der Ausdauerlauf über 1.500 Meter war, wenn es so etwas überhaupt gab, meine Paradedisziplin. Aus irgendeinem Grund erwischte ich einen Traumstart. Ich rannte los, wie von der Tarantel gestochen und als ich mich nach einer halben Stadionrunde umschaute, hatte ich schon einen ordentlichen Vorsprung erlaufen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Angespornt von der Gelegenheit, die sich mir das bot, schienen meine Beine zu fliegen. Ich machte Meter um Meter gut und vergrößerte den Abstand zu den nachfolgenden Sportskameraden, angeführt von der sehr ehrgeizigen Läuferin Andrea H., die es sich wirklich später zum Hobby machte, barfuß zu laufen.

Ich spürte den Jubel der Tribünen und schmeckte den süßen Duft des Sieges auf meiner bis zum Boden hängenden Zunge. Ich bog auf die Zielgerade ein und rannte das Ding locker nach Hause. Das war mein bis heute einziger sportlich ausgezeichneter Sieg. Mein 1.500 Meterlauf in der sechsten Klasse.

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Bei den Bundesjugendspielen wird es künftig keine Ehrenurkunden mehr geben. Also auch keine Sieger und Verlierer. Ist das gut? Wir haben neun Menschen nach ihren Erfahrungen im Schulsport gefragt. Hier geht es zur Übersicht.

35 / 2007
ZEIT ONLINE