INTEGRATION GLOBAL

Hallo Multikultur

"Die Flüchtlinge aus Afghanistan müssen integriert werden!" Wer sagt das? Nicht Wolfgang Schäuble sondern Fariborz aus Iran. Junge Menschen aus Kuwait, Bahrain und Israel schreiben hier über ihre Version der Integration

Mitte Juli trafen sich die Vertreter von Migranten und Einwanderern mit der deutschen Bundesregierung um gemeinsame Ziele für einen "nationalen Integrationsplan" zu vereinbaren. Über den Erfolg des Gipfels mag man sich streiten – die meisten sind sich aber einig darin, dass die Initiative der Bundesregierung ein richtiger Schritt ist. Doch wie ist das eigentlich in anderen Ländern? Iran zum Beispiel, oder Israel? Diese Frage haben wir den Leserinnen und Lesern des Weblogs mideastyouth.com gestellt. Ihre Antworten zeigen, dass Deutschland mit den Fragen an die Integrationsdebatte nicht allein ist, dass viele Probleme auch anderswo auf der Welt bestehen. Sie zeigen aber auch, dass Migration nicht gleich Migration ist.

Die englischsprachigen und ungekürzten Antworten findet Ihr hier beimideastyouth.com . Den ersten Teil unseres Austauschprojektes gibt es hier: Der erste Kuss = أول تقبيل

Esra'a (Bahrain), 17. Juli 2007 um 3:27 Uhr

Die Wanderarbeiter in der Golfregion haben kaum Rechte. Die Art, in der sie behandelt werden, würde ich Sklaverei nennen. Viele von ihnen kommen aus Südostasien zu uns um hier Arbeit zu suchen. Sie arbeiten als Bauern, Hausmädchen, in Werkstätten oder auf Baustellen. Das Arbeitspensum, das von ihnen erwartet wird und zu dem sie oft gezwungen werden, ist unvorstellbar. Viele von ihnen bekommen weniger als 100 Dollar im Monat – manche werden überhaupt nicht bezahlt.

Unsere Gesetze schützen sie nicht gut genug, ihre Menschenrechte werden kaum durchgesetzt oder auch nur anerkannt, obwohl sie oftmals die härteste Arbeit von allen leisten. Ohne sie würden viele Baufirmen nicht funktionieren. Sie sind notorisch unterbezahlt, trotzdem arbeiten sie zuverlässig. Sie werden ausgenutzt und wie Bürger zweiter Klasse behandelt.

Das alles verursacht Rassismus, weil wir Arbeiter aus dem Westen genau umgekehrt behandeln. Wir verschaffen ihnen alle Vorteile und Sicherheiten, die sie sich wünschen. Um ausländische Investoren kümmert sich unsere Gesellschaft gut, während die asisatischen Wanderarbeiter nur gedemütigt werden.

Josef (Libanon & Jordanien) , 17. Juli 2007 um 15:58 Uhr

Ich finde, dass Einwanderer und Minderheiten auf jeden Fall die Sprache des Landes sprechen sollten in dem sie leben!

Murad (Kuwait) , 18. Juli 2007 um 6:32 Uhr

Ich stimme Esra’a zu, was die Wanderarbeiter angeht, in Kuwait ist es genauso. Ich habe einige Zeit in Syrien gelebt und mich stört die Unterdrückung der Kurden dort. Ihnen wurden lange Zeit grundlegende Bürgerrechte vorenthalten, genau wie in der Türkei.

Eine andere Sache ist die, dass wir im Nahen Osten oft nach Religionen aufgeteilt werden, nicht nach ethnischer Herkunft. Obwohl wir die gleiche Kultur und Geschichte haben, werden arabische Juden als eine andere Rasse angesehen – nur weil die Religion eine andere ist. Es ist schwer, hier eine Minderheit zu definieren.

Sollten Minderheiten voll integriert werden? Sicherlich nicht durch Gewalt. Tatsächlich läuft in Ländern mit hohen Immigrationsraten die Wirtschaft meistens besser, Multikulturalimus gibt uns das Gefühl von Vielfalt.

Vor einigen Jahren war ich für sechs Monate als Student in Berlin. Ich wohnte mit einem russischen Einwanderer zusammen, der mir seine Geschichte erzählte. Er sagte, er hätte nichts dagegen, die deutsche Sprache zu lernen, solange sie nicht seine eigene Sprache und Kultur vollkommen verdrängen würde. Wenn ein Immigrant in ein anderes Land geht und sich vollkommen assimiliert, bedeutet das, dass er seine eigene Identität verändert nur um sich in eine Mehrheit zu fügen. Das finde ich nicht gut.

Meine Familie ist immer viel umgezogen, weil wir in den Achtzigern mit Armut zu kämpfen hatten. Hätten wir damals versucht, alle Sprachen und Lebensweisen unserer Gastländer zu übernehmen, hätten wir dem Druck nicht standgehalten. Wir wollten unsere eigene Identität leben und gleichzeitig die Kulturen unserer Gastgeberländer respektieren. Daran ist meiner Meinung nach nichts falsches. Multikulturalismus ist eine tolle Sache, wir sollten ihn mit offenen Armen empfangen.

Wie in Bahrain gibt es auch in Kuwait eine wachsende persische Gemeinschaft. Sunniten, die in Iran lange Zeit verfolgt wurden, kamen in die Golfregion. Nun sind die Schiiten in der Minderheit. Aber das macht das Land nur noch interessanter.

Wenn wir alle dieselbe Sprache sprechen und denselben Glauben praktizieren würden, wäre das sehr langweilig. Gebt uns Gegensätze und lasst uns lernen zu teilen.

Fariborz (Iran) , 18. Juli 2007 um 7:55 Uhr

In der Islamischen Republik Iran gibt es so gut wie gar keine Einwanderer. Aber es gibt fast eine Million Flüchtlinge aus Afghanistan. Sie kamen schon während des Krieges mit der Sowjetunion, später dann aufgrund der Unterdrückung durch die Taliban. Die meisten leben in Armut, sie sind oft schlecht ausgebildet und verrichten einfache körperliche Arbeit, zum Beispiel als Fabrikarbeiter, auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. Sie bekommen unglaublich niedrige Stundenlöhne, manchmal werden sie auch überhaupt nicht bezahlt, weil sie keine Arbeitserlaubnis haben.

Die Regierung verweigert ihnen grundlegende Rechte: medizinische Versorgung, Bildung, Arbeit. Es ist offzielle Politik, die afghanischen Flüchtlinge dazu zu bringen, das Land so schnell wie möglich wieder zu verlassen.

Leider verkaufen einige von ihnen Drogen und werden auf Grund der großen Armut kriminell, in einigen Provinzen des Iran betreiben sie auch Sexhandel. Sie heiraten iranische Mädchen und verkaufen ihre Bräute dann nach der Hochzeit an Bordelle in Afghanistan. Das ist traurig.

Das schlimmste ist, wie Iraner mit den Afghanen umgehen. Ihr Verhalten ist voll von Rassismus. Sie rauben sie aus, schwärzen sie an und stoßen sie herum. Das widert mich an. Ich finde, dass die Menschen im Nahen Osten ihren Nachbarn gegenüber sehr rassistisch sind. Wir können einander nicht für eine Minute akzeptieren. Warum? Wo ist die Menschlichkeit? Was ist falsch mit uns?

Auf der anderen Seite behandeln wir die Menschen aus dem Westen sehr höflich. Das ist gut, wirft aber die Frage auf, warum wir Afghanen nicht auf die gleiche Art behandeln.

limpia , 18. Juli 2007 um 20:45 Uhr

Habt ihr schon mal von Queens, diesem New Yorker Stadtteil, gehört? In diesem Viertel gibt es eine Fülle von Einwanderern aus aller Welt. Die Nachbarschaft ist voll von Pakistanis, Indern, Chinesen, Koreanern, Südamerikanern, Latinos und vielen anderen. Diese Menschen füllen unsere Universitäten, auch wenn sie Einwanderer der ersten Generation sind. Sie arbeiten hart und scheinen der Demokratie treu zu sein. Sie üben ihre Religionen aus oder auch nicht und viele von ihnen eröffnen kleine Läden oder Restaurants (lecker).

Ich glaube, in dieser Stadt gilt der Grundsatz "Leben und leben lassen", trotz der Vorurteile zwischen einzelnen Menschen, die es vielleicht gibt. Frauen werden nicht vergewaltigt oder gegen ihren Willen verheiratet. Reiche Leute können ihre Hausdiener nicht missbrauchen oder schlecht behandeln: Ich habe von Saudis in unserer Gegend gehört, die ihre indonesischen Diener mit nach New York brachten und sie weiterhin nicht bezahlt haben, sie schlecht behandelten und ihnen ihre Pässe abnahmen. Dafür wanderten sie hinter Gitter.

Ich habe auch von Moscheen in Queens gehört, die sich über die Überwachung durch die Behörden beschwert haben. Ich glaube aber, dass wir nicht darum herumkommen, in der momentanen Situation auf die Überwachung einiger zur Sicherheit aller zu verzichten. "Checks and balances" funktioniert scheinbar und ich nehme an, dass Einwanderergruppen da zustimmen würden. Ihr großes Bedürfnis hierherzukommen bezeugt das doch.

Fariborz (Iran) , 19. Juli 2007 um 1:50 Uhr

Ich sollte noch hinzufügen: Ja, ich denke schon, dass alle Bürger eines Landes seine Sprache sprechen sollten, auch wenn sie ausländische Wurzeln haben. Wenn Einwanderer aktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben wollen, ist die Sprache das Grundelement jeglicher Interaktion.

Ich weiß, dass Immigranten in Australien oder Kanada eher Kolonien bilden, als sich auf ihr neues Land einzulassen. Chinesen geben sich zum Beispiel nur mit Chinesen ab. Die meiste Zeit brauchen sie nicht mal Englisch zu sprechen. Und andere Minderheiten tun dasselbe.

Mir kommt es manchmal so vor, als ob der so genannte Multikulturalimus in Wahrheit nur eine Multi-Kolonien-Gesellschaft ist.

RandallJones (USA) , 19. Juli 2007 um 2:34 Uhr

Fariborz, du hast geschrieben, dass die Menschen im Nahen Osten ihren Nachbarn gegenüber sehr rassistisch seien. Das mag vielleicht richtig sein, aber ich frage mich, wie der Westen mit dem riesigen Aufkommen an Kriegsflüchtlingen umgehen würde, das der Nahe Osten aushalten muss. Iran hat im Moment die höchsten Flüchtlingszahlen. Nach Syrien, Jordanien und Ägypten kommen Millionen von von Flüchtlingen aus dem Irak. In Ägypten gibt es zwei oder drei Millionen sudanesische Flüchtlinge.

Jina (Kanada/Sri Lanka), 19. Juli 2007 um 12:43 Uhr

Ich lebe in einem Einwanderervorort. Die meisten meiner Freunde kommen aus China, Jamaika, Pakistan, Indien, Bangladesh oder von den Philipinen, ich komme aus Sri Lanka. Wir Einwanderer der zweiten Generation sprechen untereinander Englisch und nur daheim unsere Muttersprache.

Die Menschen, die hierher kommen, arbeiten 8-12 Stunden täglich, manchmal 14, sie haben einfach keine Zeit eine neue Sprache zu lernen. Sie sprechen gebrochenes Englisch und verstehen, was man ihnen sagt. Die Alternative für sie wäre, zwar fließendes Englisch zu sprechen, aber dafür obdachlos zu sein. Das geht nicht, sie müssen eine Famillie ernähren.

Die kanadische Regierung bietet für jeden kostenlose Englisch- und Französischkurse an. Die meisten Mütter meiner Freunde, die Hausfrauen sind, haben mehr oder minder freiwillig daran teilgenommen: Die Regierung nervt dich zu Tode bis du entweder zur Schule gehst oder arbeitest, sie bietet einem kostenlose Bildung. Die Regierung hier weiß, wie man eine funktionierende multikulturelle Gesellschaft aufbaut.

Eliesheva (Israel & USA), 20. Juli 2007 um 20:19 Uhr

Ich komme aus den USA und lebe jetzt in Israel, also werde ich hier einfach mal über Israel schreiben.

Israel ist eine verrückte und einzigartig bizarre Gesellschaft, Immigranten und Einheimische vermischen sich hier in allen Kategorien (Religion, ethnische Herkunft, Nationalitäten). Die meisten Einwohner sind Einwander in erster, zweiter oder dritter Generation. Ihre Herkunftsländer umfassen den ganzen Nahen Osten (Araber, Perser, Türken), Europa, die ehemalige Sowjetunion, engllischsprachige Staaten, Äthiopien, Südafrika und so weiter. Außerdem gibt es in Isreal ungefähr eine Million einheimische Araber.

Wie du hier behandelt wirst, kommt darauf an, wer du bist und woher du kommst. Demographisch gesehen, ist Israel ein sehr kompliziertes Land. Die meisten Leute sprechen mindestens zwei Sprachen, Arabisch und Hebräisch sind die offziellen Sprachen, aber Englisch und Russisch sind auch sehr verbreitet. Es gibt sogar Landesteile, wo man überhaupt kein Arabisch oder Hebräisch hört.

Ich könnte eine ganze Doktorarbeit zu diesem Thema schreiben, aber es gibt schon so viele davon.

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