Flüchtlinge

"Es ist eng geworden"

Immer weniger Menschen beantragen in Deutschland Asyl. Gibt es etwa weniger Flüchtlinge? Ein Interview mit Bernd Mesovic von Pro Asyl e.V.

Fragen von Nico Semsrott

Die Zahl der Asylantragssteller ist in Deutschland im ersten Halbjahr 2007 um 21,7 Prozent gesunken, wenn man die Zahl mit dem Vorjahr vergleicht. Woran liegt das? Gibt es weniger politisch Verfolgte?

Dass die Zahlen einen historischen Tiefpunkt erreicht haben, hat zum Einen mit der effizienteren Grenzabschottung zu tun. Zum Anderen liegt es daran, dass die Konfliktherde, welche Flüchtlinge produzieren, im Vergleich zum Anfang der Neunziger Jahre inzwischen weiter entfernt sind.

Hängt der Rückgang der Antragszahlen auch damit zusammen, dass sich viele Flüchtlinge gar nicht mehr bei staatlichen Stellen melden?

Zum Teil ganz gewiss. Es gibt zum Beispiel in den osteuropäischen EU-Nachbarstaaten den Trend, sich nicht registrieren zu lassen und die Chance dort zu suchen, wo die größte statistische Anerkennungswahrscheinlichkeit ist. Die europäische Harmonisierung hat bisher nicht dazu geführt, dass sich die Entscheidungspraxis angenähert hat. Beispielsweise hatten Tschetschenen in Österreich bislang wesentlich bessere Anerkennungschancen als in vielen anderen EU-Staaten. Da ist es natürlich logisch, dass man versucht, die Fingerabdrücke nicht da zu lassen, wo man geringere Anerkennungschancen und vielleicht noch viele soziale Folgeprobleme hat. Natürlich gibt es auch das Phänomen, dass ein Teil der von vornherein Chancenlosen das Leben ohne Papiere vorzieht. Das ist gewissermaßen zwangsläufig: Ein engherziges Asylrecht und restriktiv gestaltete Lebensbedingungen produzieren ein Mehr an irregulärer Migration.

Weit mehr als die Hälfte der Asylanträge werden in Deutschland abgelehnt. Weniger als ein Prozent der Antragsteller erhält uneingeschränktes Asyl. Wie kann man diese Zahlen erklären?

Wir meinen, dass die Ergebnisse der Asylverfahren nur sehr begrenzt das Schutzbedürfnis der Betroffenen widerspiegeln. Das deutsche Asylrecht ist sehr eng geworden. Die Qualität der Asylverfahren mangelhaft, die Behörden setzen zu wenig Personal ein. In den persönlichen Anhörungen sind die Fragen schon auf die möglichen Ablehnungs-Textbausteine zugeschnitten. Es herrscht also eine klare Ablehnungsneigung. Folter wird, gerade wenn ihre Opfer nicht beredt über sie berichten können, häufig "übersehen".

Warum geht die EU so rigoros gegen Flüchtlinge vor?

Ich würde sagen, es besteht kein wirklicher, sachlicher Grund. Eine EU, die fast 500 Millionen Einwohner hat, kann wesentlich mehr Flüchtlinge und Asylsuchende aufnehmen, als sie das heute tut. Sie könnte jetzt zum Beispiel anbieten, einen Teil der Millionen von Flüchtlingen aus den Nachbarstaaten des Iraks aufzunehmen. Es gäbe also die Möglichkeit, Menschen offensiv zu helfen, statt sie abzuwehren. Außerdem die propagiert die EU die Idee einer globalen Steuerung von Migration. Gesteuert – nämlich abgewehrt – werden sollen auch Fluchtbewegungen. Flüchtlinge sind in diesem Modell gesteuerter Einwanderung von Nützlichen die Störer.

Finden Sie es also nicht legitim, dass man nur die Menschen aufnehmen will, die der Gesellschaft nützen?

Das kann als Credo für die ganze Welt nicht gelten. Wenn wir das tun, entziehen wir uns ethischen Verpflichtungen. Ich meine, dass eine Einwanderung von gesuchten Personengruppen durchaus legitim ist. Aber dem gegenüber muss die humanitäre Verpflichtung dasselbe Gewicht haben.

Fordern Sie als Quintessenz, dass jeder das Recht haben sollte, nach Deutschland oder Europa zu kommen?

Wir meinen einerseits, dass es eine seit langem geltende völkerrechtliche Verpflichtung ist, Flüchtlingen ein faires Prüfungsverfahren anzubieten. Europa ist darüber hinaus auch mitverantwortlich für die Entstehung neuer Fluchtursachen, zum Beispiel als Resultat des Klimawandels und der Verelendung als Folge der EU-Subventionspolitik im Landwirtschafts- und Fischereisektor. Auch über die Flüchtlingspolitik hinaus muß sich die EU ihrer Verantwortung stellen. Es geht aber nicht darum, einer politischen Utopie folgend die sofortige Öffnung aller Grenzen zu fordern, sondern eine größere Offenheit, Menschen aus Notsituationen aufzunehmen. In einer globalisierten Welt muß die klassische Kernaufgabe des Flüchtlingsrechts, politisch, religiös, rassistisch Verfolgte zu schützen, erweitert werden.

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29 / 2007
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