Selbstversuch

Einmal Wissen, bitte

Auf dem "Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen" in Berlin kann man sich für drei Euro einen Experten buchen. Elise Graton ließ sich beraten.

Samstagabend kurz nach 19 Uhr stehe ich vor dem HAU 2 , einem der drei Spielstätten des Berliner Theaters Hebbel am Ufer . Ich bin hier, weil mir versprochen wurde, ich könnte "nützliches Wissen und Nicht-Wissen" erwerben.

Die Idee für die Wissens-Märkte stammt von der Kuratorin Hannah Hurtzig . Seit 2005 organisiert sie mit wechselnden Partnern die Veranstaltung, bei der Besucher einen "Experten" buchen können, um sich deren Wissen anzueignen. Eine halbe Stunde kostet 3 Euro. Das Thema des heutigen Abends ist Mobilität. Im Intellektuellen-Sprech der Veranstalter heißt das "Routen und Orte der Mobilitätspioniere und -funktionäre". Als jemand, der selbst vor neun Jahren von Frankreich nach Deutschland gezogen ist, kann ich nicht genug Nützliches darüber wissen.

Oben im Saal fängt gerade der siebte Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen an. Am Eingang schnappe ich mir die beiden Programmhefte, ohne die das Funktionieren der Veranstaltung ein Rätsel bleiben würde. Das eine weist alphabetisch geordnet die Namen und die Fachgebiete der 100 geladenen Experten auf. Im anderen Heft steht der genaue Tischplan. Wer sich für einen Gesprächspartner entschieden hat, bucht ihn an einem der im Vorraum aufgebauten Schalter.

Bei der Suche nach einem entsprechenden Experten lasse ich mir Zeit: Manche Schlagworte wie "Alaska" oder "Essen" klingen zu mysteriös – was hat das mit Mobilität zu tun? Ich interessiere mich für Handfesteres – "Arbeitsmigration" oder "Tourismus".

Unter dem Schlagwort "Verkehrliche Mobilität" entdecke ich Peyé Psimenou, Stewardess seit 1988. Ihr Fachgebiet: "The Different Smells of the 40 International Airports I Know". Das klingt skurril, aber interessant. Die Auseinandersetzung mit meinem Migrationshintergrund muss also erst mal warten.

Nachdem ich meine Karte am Schalter gekauft habe, begebe ich mich zum Tisch Nummer sechs. Peyé Psimenou ist eine kleine Frau aus Griechenland. Mit kindlichem Enthusiasmus berichtet sie mir vom Flughafen von Bangkok, der nach Müll stinkt: Weil sie dort immer vier Tage bis zum nächsten Flug bleiben muss, hat sie sich dafür entschieden, den Geruch einfach zu lieben. In New York riecht der Flughafen lecker nach angebranntem Karamell, in Dubai nach Menschen, weil die Passagiere im Transit dort übernachten dürfen. Johannesburg duftet nach frischer Bergluft, Nairobi nach Ananassaft, weil das Getränk dort bei der Ankunft ausgeschenkt wird. Jeden Duft begleitet eine Geschichte. Ich lausche und bekomme Lust zu reisen.

Dann erklingt ein Gong. Die halbe Stunde ist vorbei, die laufende Gesprächsrunde beendet, gerade in dem Moment, in dem meine Expertin und ich gemeinsam die Worte finden, um den Geruch Kairos zu beschreiben: seltsame Schwere, heißer Stein.

Ich gehe erneut zum Schalter, um meinen nächsten Experten zu buchen. In der Schlange treffe ich einen Bekannten. Er hat gerade mit Petra Rosenberg gesprochen, der Vorsitzenden des Landesverbandes deutscher Sinti und Roma in Berlin und Brandenburg . Sie hat ihm etwas über den Mythos der Wanderleidenschaft von Sinti und Roma erzählt. Ob er etwas gelernt habe? "Von dem Thema hatte ich vorher null Ahnung. Jetzt besitze ich das Basiswissen", sagt er. Was er als Nächstes erfahren will? "Egal, ich nehme, was kommt."

Meine nächste Gesprächspartnerin ist Esra Erdem. Mit der Ökonomie-Doktorandin, Autorin und Sozialarbeiterin will ich mich über "Praxis und Politik in der migrantischen Frauenbewegung" unterhalten. Sie schildert mir ihre Arbeit bei TIO e.V. , dem "Treff- und Informationsort für Migrantinnen" und berichtet von den Problemen der Frauen, die sie besuchen, und wie ihnen geholfen wird. Ich erzähle ihr von meinen Schwierigkeiten, mich als ausländische Frau auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu behaupten, und lerne etwas darüber, wie ich mit dem seit letztem Sommer geltenden Antidiskriminierungsgesetz in Deutschland umgehen kann. Besonders gespannt lauscht sie meiner Erfahrung mit einem Redakteur des RBB . Er sagte mir, ausländische Akzente hätten im öffentlichen Radio nichts zu suchen. Sie gibt mir ihre Karte. Ich werde sie bestimmt mal besuchen.

Die Schlange vor dem Schalter ist mittlerweile so lang, dass ich mich nicht anstellen mag. Lieber besorge ich mir einen Kopfhörer und höre beim "Schwarzradio" live den Gesprächen einiger anderer Besucher zu. Ich bekomme die Verlegenheit einer Literaturwissenschaftlerin mit, als ihr "Kunde" sie fragt, warum sie sich eigentlich für Jacques Derridas Stadttheorie interessiert. Ich erfahre, warum in Deutschland das Wort Rassismus so ungern verwendet wird und welche neuen Räume durch das internationale Nomadentum entstehen.

Als ich später das HAU verlasse, bin ich um ein paar Geschichten und Auskünfte reicher und habe außerdem Menschen kennengelernt, die ähnlich denken wie ich. Die auch bereit sind, etwas Neues, Fremdes, Überflüssiges und manchmal Unbequemes zu erfahren. Mir wird klar, dass wir viel zu häufig das tun, was im Interesse einer dominanten Mehrheit steht, ohne es in Frage zu stellen: eine Sprache lernen, nur weil es im Lebenslauf gut aussieht, den Studiengang gemäß der Arbeitsmarktslage und nicht der eigenen Interessen wählen, sich denselben Haarschnitt wie die Kollegen verpassen. Beim Schwarzmarkt konnte ich einfach neugierig sein und lernen, was mich interessiert – ob nützlich oder nicht. Das tut gut. Ich freue mich auf die Auswirkungen.

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11 / 2007
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