Nicht-Essen
Ohne alles, bitte
Essstörungen sind bei Männern ein Tabu – weil Magersucht und Bulimie als typisch weiblich gelten. Bernhard Wappis kämpft er gegen dieses Vorurteil. Im Zuender erklärt er, warum er das männlicher findet, als die Klappe zu halten und zu leiden
Ohne Paprika, bitte. Die kann er nicht ausstehen. Das muss er noch sagen. Sonst schmeckt es ihm nicht. Er winkt dem Kellner: „Die Käsesemmel bitte ohne alles, einfach pur!“ Bernhard Wappis weiß, wie ein Käsebrötchen aussehen muss, damit es ihm schmeckt. Vor ein paar Jahren wusste er das noch nicht. Da hatte er vergessen, dass man Essen auch genießen kann, er hätte wahllos bestellt, wahllos gegessen. Und es anschließend ausgekotzt.
Ein Samstagvormittag in Wien, im Café West-End. Bernhard Wappis (30) verdrückt das Frühstück, das ihm eben serviert wurde. Nebenher spricht er über seine Essstörung, das findet er jetzt nicht unpassend. Davon kann er mittlerweile erzählen, auch bei Kaffee und Brötchen, denn damit ist er durch: mit dem Schlankheitswahn und der Sportsucht, dem Fressen und den Kotzanfällen – mit Magersucht und Bulimie. Zehn Jahre lang litt er darunter, vier Jahre ist das jetzt her. Seine Krankheit hat er mittlerweile überwunden, sagt Wappis, da sei er sich sicher. Nach zwei umfangreichen Gesprächstherapien habe er sich komplett gehäutet. Er sagt, er sei nicht mehr der Bernhard von damals, der im Strudel steckt, sondern einer, der den Sog reflektieren, mit Distanz betrachten und anderen Menschen helfen kann. Und man glaubt ihm das.
Wappis, der in Villach bei Klagenfurt geboren wurde, ist heute diplomierter Psychologe und arbeitet bei So What! , einem Wiener Institut für Essstörungen. „Ich gehöre zu den 33 Prozent, die es geschafft haben“, sagt er. „Dafür bin ich unendlich dankbar.“ Das klingt nicht arrogant, sondern ehrlich. „33 Prozent der Essgestörten stabilisieren sich nur, das heißt, sie können mit der Krankheit leben. Und ein Drittel bleibt ganz darin stecken“.
Magersucht und Bulimie sind typische Frauenkrankheiten. Denkt man. Wappis sieht das anders. „Nein“, sagt er und schüttelt den Kopf: „Typisch ist nur, dass Frauen sich öfter in Behandlung begeben und offen darüber sprechen.“ Wie viele Menschen unter Essstörungen leiden, und wie viele von ihnen männlich sind, kann man nur schätzen. „Abgesicherte Zahlen, die den Status Quo widerspiegeln, gibt es nicht – die Dunkelziffer ist sehr hoch“, sagt auch Antje Gahl, Sprecherin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung in Bonn. Sylvia Baeck, Geschäftsführerin des Berliner Beratungszentrums Dick & Dünn berichtet, dass von 1200 Beratungsfällen im Jahr nur 15 Prozent Männer seien. Und Dr. Jan Nedoschill, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Gründer der Informationsportals hungrig-online.de , behandelt in seiner Praxis in Herzogenaurach „pro Jahr im Schnitt nur einen männlichen Jugendlichen“ wegen Magersucht oder Bulimie. Dass das Problem aber dringlicher wird, zeigt die Tatsache, dass im November 2006 bei ANAD in München, einer der größten Beratungsstellen in Deutschland, die erste therapeutische Wohngruppe für essgestörte Männer gegründet wurde.
Über ihre Essstörungen zu sprechen, ist auch für Frauen ein Tabu, aber viel mehr noch für Männer. Kaum einer geht so offen damit um wie Bernhard Wappis. Er hat ein Buch mit dem Titel Darüber spricht man(n) nicht...! geschrieben. Darin berichtet er über seinen Leidensweg: die symbiotische Beziehung zu seiner Mutter und das Selbstvertrauen, das ihm fehlte. Wie er, der zuvor immer pummelig war, im Sommer 1992 in einem stressigen Job arbeitete, unbeabsichtigt dünner wurde und plötzlich Anerkennung für seine Figur bekam. In dem Buch steht auch, dass Wappis nicht schwul ist. Er widerlegt das Klischee, dass hauptsächlich homosexuelle Männer essgestört sind.
Wieso schreibt dieser Mann ein Buch über seine Essstörung? Wieso stellt er seine private Krankheit und sein Leid vor allen zur Schau? „Ich will andere Männer aus der Isolation holen. Ich selbst war damals sehr einsam“, sagt Wappis ganz abgeklärt. Es klingt, als wolle er sagen: Ich habe verstanden, worum es geht. Dass alles nur noch schlimmer wird, wenn man einen auf harten Mann macht und nicht darüber spricht.
Der Jugendpsychiater Dr. Jan Nedoschill glaubt, dass Männer sich nicht zu Essstörungen bekennen, weil sie oft „stark und unverwüstlich“ erscheinen wollen und weil eine Essstörung „ein hohes Maß an Schwäche spiegelt“. Das klingt erst mal schrecklich abgegriffen. Noch schrecklicher ist die Beobachtung Nedoschills, dass essgestörte Männer „eher als Frauen zu chronischen Verläufen neigen, weil sie sich so spät in Therapie begeben.“ Chronisch bedeutet, dass die Betroffenen trotz monate- und auch jahrelanger Behandlung kein gesundes Normalgewicht mehr erreichen. Etwa 10 Prozent sterben sogar, zum Teil an akutem Nährstoffmangel, zum Teil, weil sie depressiv werden und Selbstmord begehen.
Bernhard nimmt noch einen Schluck Kaffee und wischt sich die Krümel vom Mund. Sein Frühstück ist beendet. Jetzt muss er mal aufs Klo. „Nicht zum Kotzen“, sagt er und lächelt wissend. Er weiß, dass diejenigen, die seine Geschichte gelesen haben, ihn misstrauisch beäugen. Das nimmt er in Kauf, es macht ihm nichts aus: „Ich mag mich, fühle mich ausbalanciert, selbstbestimmt. Ich stehe zu mir.“ Früher dachte er, echte Männer dürften keine Schwäche zeigen. Seine neue Art von Männlichkeit gefällt ihm besser. Das Essen kann er heute wieder genießen. Es macht Spaß, genau wie Sex. Wappis lebt heute mit seiner Freundin Astrid (29) zusammen, von seiner Mutter hat er sich freigestrampelt.
Als Bernhard Wappis noch krank war, quälte er sich nicht nur, indem er hungerte. Er machte auch zwanghaft Sport, rannte stundenlang, machte zahllose Sit-ups. Irgendwann kippte er in die Bulimie. Wenn er sich als Versager fühlte, rannte er in den Supermarkt – zunächst nur mit dem Vorhaben, sich etwas Schönes zu kochen. Erst steuerte er das Regal mit Nudeln und Pesto an. „Der Weg zur Kasse war dann wie eine Kreuzung, auf der du nach links abbiegen willst. Plötzlich zieht es dich nach rechts, wie in einem Ferrari, der von null auf hundert beschleunigt, ohne warmgelaufen zu sein.“ „Leer und zugleich rastlos“ habe er sich gefühlt, wenn er Nutella, Gurken, Pizza, Kuchen in den Einkaufswagen feuerte – „wie im Rausch“. Müsste er diesem Rausch eine Farbe geben, wäre das Schwarz-Gelb. „Schwarz für Traurigkeit, Gelb für ,Achtung! Hier stimmt was nicht!’“. Zu Hause war der Rausch dann nur noch schwarz, „das Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmte, war völlig ausgeblendet“, begraben unter Milch, Müsli, Keksen, Torten, Brot und Käse. „Das Brot aß ich ohne Butter zusammengepappt. Ich hab mich mit Joghurt beschlabbert, sah aus wie eine Sau. Es war, als würde das Essen mich fressen.“ Erst über der Toilette kam er wieder zu sich, den Finger, das Beißen, das Brennen und Würgen im Hals.
Diese oder ähnliche Horrorgeschichte können alle erzählen, die unter Essstörungen leiden. Könnten sie erzählen, wenn sie das Tabu brechen würden.
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99 /
2007
ZEIT ONLINE