MEDIEN
Seid nett aufeinander
Früher schmuddelig und links, heute nur noch schmuddelig: Die St.Pauli-Nachrichten waren mal politisch. Als es die Beatles noch gab
Ein Farbfoto, nur ein paar Monate alt. Es zeigt einen unauffälligen Bürobau irgendwo in Hamburg. Hier werden die St. Pauli Nachrichten gemacht. Das „Lustblatt Nr. 1“ serviert Sex-Tipps und viel nacktes Fleisch. Sehr viel nacktes Fleisch. Die Schlagzeilen rufen „Komm so oft du willst! Das Ständer-Training! “ oder „Glitschig ist geil – das lieben die Girls“.
Kaum auszumalen, dass hier einmal Mediengeschichte geschrieben wurde. Aber das ist lange her.
Wir spulen zurück: Ende der sechziger Jahre begleitete Spiegel -Fotograf Günter Zint den damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger nach London, wo ihm eine Zeitung namens London Gleaner in die Hände fiel. Das Blatt enthielt Tipps für Touristen, außerdem konnte jeder Leser bei der Redaktion eine persönliche Ausgabe mit selbst getexteter Schlagzeile kaufen. Einige Monate später brach sich Günter Zint die Kniescheibe und lag für mehrere Wochen im Hamburger Hafenkrankenhaus. Dort reifte die Idee, dass es so etwas wie den London Gleaner auch für Hamburg geben könnte. Für St. Pauli, Reeperbahn und Herbertstraße .
Zint machte sich ans Werk. Die nötige technische Ausstattung – eine Handpresse – besorgte sein Freund Helmut Rosenberg, der auf dem Kiez Trödel und Antiquitäten verkaufte. Zusammen mit ihren Ehefrauen gründeten sie im Frühjahr 1968 den „St. Pauli Nachrichten-Verein“, mit 500 Mark Einlage pro Mitglied und klaren Absichten: „Er macht sich zur Aufgabe, Werbeträger für St. Pauli und Umgebung zu werden“, so das Gründungsprotokoll. Zint und Rosenberg zogen los, brachten 10.000 vierseitige Spaßzeitungen mit ein paar Nacktfotos zu je 10 Pfennig unter die Touristen. „Um ein bisschen seriös zu wirken, haben wir im Titel einfach die Schrift des Hamburger Abendblatts verwendet“. Ganz wie beim Vorbild aus London war für 1,50 Mark auch eine personalisierte Ausgabe im Angebot: „Kuddel Schmidt nackt im Bordell erwischt“ oder „Erwin Meyer kauft alle Hamburger Werften“.
Geld brachte das Kiezblatt zunächst nicht ein, dennoch stieg die Auflage der zweiten Ausgabe auf 15.000 Stück. Als eine Plattenfirma eine Anzeige schalten wollte, professionalisierten Zint und Rosenberg die Zeitschrift. Die Nachrichten sollten in ganz Hamburg erhältlich sein. Dazu bauten sie eine Redaktion auf. Mit Erfolg: Im Oktober 1969 wurde das Blatt 200.000 mal verkauft.
Der Erfolg hatte eine Überschrift. In der Rubrik „Seid nett aufeinander“ fingierten Zint und Kollegen zunächst zum Spaß Kontaktanzeigen. Als aber auf die Scheininserate echte Kontaktwünsche eingingen, beschlossen sie, einen regelmäßigen Heiratsmarkt mit Leserinseraten zu veröffentlichen. Darauf wurden nicht nur einsame Herzen aufmerksam. Durch zwei Aktionen der Hamburger Polizei wurde die Zeitschrift bundesweit bekannt: Am 9. Oktober 1969 durchsuchten Beamte die Büros und konfiszierten 91 Exemplare der Nachrichten . Strafrechtlich relevantes haben sie nicht gefunden, nach einigen Tagen wurden die Hefte wieder an die Redaktion übergeben – nur eines fehlte. Drei Wochen später wurden die Gesetzeshüter doch fündig und beschlagnahmten die Kartei der Heiratsmarkt-Inserenten. Die Anzeigen wurden verdächtigt, „unzüchtigen Verkehr herbeizuführen“. Kein Wunder, die Inserate hätten kaum eindeutiger sein können.
Seitdem waren die Nachrichten auf Rekordjagd. Im Januar 1970 lag die Auflage bei 800.000 Exemplaren. „Wir haben damals eine Lücke gefüllt, etwas wie uns gab es ja höchstens in Dänemark“, blickt Günter Zint zurück.
Das Verhältnis zu den Behörden blieb gespannt. Im Februar 1970 drohte eine dauerhafte Indizierung durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften in Bonn. Damit hätte das Blatt nur noch unter dem Ladentisch verkauft werden können. Rosenberg hat eine Idee. Tageszeitungen durften nach dem Presserecht nicht dauerhaft indiziert werden. Warum sollte es also nicht eine Tagesausgabe geben. Und warum sollte die dann nicht politisch sein?
Gesagt, getan. Während die wöchentliche Ausgabe mit dem Heiratsmarkt auf eine Rekordauflage von 1,2 Millionen zusteuerte, arbeiteten jetzt linke Autoren für den täglich erscheinenden Ableger. Henryk M. Broder und Günter Wallraff schrieben gegen den Vietnamkrieg, Kapitalismus und die Bundesregierung. Stefan Aust, der heutige SPIEGEL -Chefredakteur, schrieb mit Horst Tomayer die Kolumne „Hein & Fietje“. "Am Freitag abend hat man mich gefragt, ob ich ab Montag eine Zeitung machen könnte. Das tat ich gern", sagt Stefan Aust dem Zuender.
Günter Zint erinnert sich: „Wir bekamen unglaublich viel Geld in Briefumschlägen, für die Inserate, das kam alles in einen großen Topf. Wer was brauchte, hat sich's genommen.“ Angeblich bekamen die Redakteure monatlich bis zu 5.000 Mark auf die Hand. Die Ausstattung war auf dem allerneuesten Stand, Kugelkopfschreibmaschinen für zehntausend Mark wurden angeschafft. Ansonsten ging es locker zu. Die Nachrichten „wurden mit mehr Rotwein als Druckerschwärze produziert“, sagt Zint. Viel wichtiger war aber: Anders als bei den großen Verlagen konnten die Journalisten bei Rosenberg und Zint schreiben, was sie wollten. "Die Zeitung war damals eine Mischung aus Hamburger Morgenpost und taz " sagt Aust.
Danach ging es bergab. Im Juli 1970 wird die Hamburger Tagesausgabe eingestellt. Die Druckerei hatte kalte Füße bekommen, weil noch immer die Indizierung drohte. Das Blatt kehrte zurück zu Heiratsmarkt und nackten Durchschnittskörpern, die politischen Journalisten schrieben nicht mehr. Für sie war in einer normalen Sexzeitschrift kein Platz mehr. Günter Zint, der einstige Gründer, verkaufte den Verlag an seinen Kumpel Helmut Rosenberg. Dem war allerdings kein Erfolg mehr beschieden. Inzwischen hatten auch andere, größere Verlage bemerkt, dass man mit freigelegtem Fleisch eine Menge Geld verdienen kann. Neue Erotikmagazine wie Praline machten den Nachrichten Konkurrenz. 1981 musste Helmut Rosenberg Konkurs anmelden, mit 600.000 Mark Schulden und nur noch 34.000 verkauften Heften. Ende 1985 starb er an Magenkrebs. Er wurde nur 49 Jahre alt.
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51 /
2006
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