Unsere Erben

Girls! Bekommt Kinder!

Der Staat braucht jetzt gebärfreudige Frauen, später strebsame Arbeitnehmerinnen. Tun wir also alles zur rechten Zeit. Ein Strategie für die Frauen unserer Generation

Ella Carina Werner

Es war in Kunitz, bei Wildenau, bei Eisenhüttenstadt, als wir einen ersten guten Zukunftsplan fassten. Und den für alle Mädchen und Frauen unserer Generation gleich mit. Ein Fest war zu Ende gegangen. Frierend lagen Lenka und ich in unserem Zelt, und das Zelt lag zeitweilig auf uns, mit seiner nach Westen gewandten Seite. Denn ein Unwetter rollte ostwärts über die Felder, und die Zeltstangen krümmten sich knackend im Wind.

Gegen solcherlei Stimmungsmalereien immun, sprachen wir, ganz sachlich, im Dunkeln über den Begriff „Generation Praktikum“. Und über die „floundering period“, den Zeitabschnitt, der junge jobsuchende Akademikerinnen wie uns zunächst einmal zappeln lässt wie Flundern. Lenka gingen solche Zuschreibungen schon seit längerem nahe. Mich aber berührten sie erst, seit ich kürzlich an der Unterschriftenaktion „Mehr Demokratie im Iran“ in Prenzlauer Berg teilnahm und beim Betrachten der Liste feststellen musste, dass hinter mehr als 80 Prozent der Signaturwilligen der Status „Praktikant“ stand. Waren nur noch Praktikanten politisch zu berühren?

„Draußen heulen die Heringe / entsilbern wie billige Eheringe.“ So reimte ich und wir wurden schwermütig angesichts der sozialpolitischen Tiefe dieser Zeilen. Wir dachten an all die unbezahlten Praktikantinnen in diesem Land, an die zarten Kajalschmisse auf ihren Wangen, die Demütigungen, die uneingestanden strategischen Dekolletees. Wir sahen die Druckstellen auf ihren Augäpfeln vor uns, wir sahen sie so deutlich, weil wir einander in die Augen schauten. War es nicht dunkel?

Uns gegen Tränen erwehrend, wandten wir uns lieber Statistiken und Prognosen zu. „Ab etwa 2010 wird sich der demographische Wandel in der Bevölkerungsstruktur Deutschlands deutlich bemerkbar machen.“ Sätze wie dieser füllten nun den Zeltinnenraum und ließen uns aufatmen. Alle Statistiken sagen, sagte Lenka, und ihre Stimmte schwoll an, dass der Staat in fünf bis zehn Jahren Frauen wie uns dringend einfordern wird. Ein gigantisches Arbeitskräftemangel-Crescendo, das allen die Ohren schlackern lassen wird, rief sie, die Hände hochreißend bis an die Zeltkuppe, was ich nicht sah, aber hörte. Auch im Kulturbereich, fragte ich, aber diese Frage erschlug der Regen. Bald, in ein paar Jahren, werden wir schwer umworben werden, was wir wollten, was angemessen war.

Wozu also jetzt anbiedern und ausnehmen lassen, wenn sich die aktuelle Flautezeit produktiv überbrücken lässt, sagte Lenka. Mit was, fragte ich. Mit Gebären, sagte Lenka, das müssen wir ja sowieso tun, also warum nicht jetzt. Der Staat braucht jetzt gebärfreudige Frauen, und dann strebsame Arbeitnehmerinnen, also seien wir alles zur rechten Zeit. Ist das Staatssolidarität, fragte ich. Auch, sagte Lenka, aber vor allem Eigennutz.

Wie wir die Folgen des Gebärens, das Geborene, zunächst finanzieren sollten, wie oft wir gebären sollten und in welchen Intervallen, und vor allem, wer die Geburten filmen sollte, wer also die Väter sein würden, all das dachten wir an, aber nicht zu Ende. Auch, dass dem Gebären das Befruchten zeitlich voran gehen muss. Wir zählten unsere weiblichen Bekannten auf, die ihren letzten Sex noch zu D-Mark-Zeiten gehabt hatten, und ihren nächsten, so fürchteten wir, erst in einer neuen Währung haben würden. Ich bin eh für artifiziell, log ich.

In der Zeitung war kürzlich von „erstgebärenden Europäerinnen“ die Rede: Von einer riesigen, aber statistisch erfassbaren Gruppe von Frauen, welche die Merkmale „erstgebärend“ und „europäisch“ verband. Das Begriffspaar gefiel mir, ich kann mich damit identifizieren, sagte ich, wir können uns damit identifizieren, sagten wir.

Erst gebären, und dann die dicken Jobs absahnen: eine griffige, leicht vermittelbare Formel, die kaum zu widerlegen war. Ich nahm mir vor, eine Rundmail an alle meine weiblichen Bekannten zu schreiben: „Hey, Girls! Steht auch ihr mit beiden Beinen neben dem Leben? Habt auch ihr die Regale voll Gesamtausgaben, aber kein Gold für die erste Krone? Dann: ...“ Und so fort. Die Finanzierungsfrage schlich sich für Momente wieder ein, wurde jedoch von einem schlichten Stolz überlagert, der uns heiß zu Kopfe stieg: Wir waren nicht nur gebärfähig; wir waren gebärbegnadet, gebärberufen. Zwei runde Iglus wollten wir sein und Lebendiges drin haben, Zappeliges, wie wir es selbst momentan waren, wir wollten dicke, pomadige Flundern sein. Wir wollten unsere Bäuche füttern, aufblähen mit noch mehr statistischem Material. Wir wollten den alten Generationenvertrag ratifizieren.

Die rückkehrende Farbigkeit des Zeltstoffes indizierte, dass es draußen hell wurde. Ruhiger werdend und miteinander notkuschelnd, um der Kälte zu trotzen, blickten wir durch das gittrige Zeltfensterchen. Das Gewitter hatte nicht aufgehört. Was dem Sturm und der Kälte entkam, starb am Regen. So wie mein Band mit Liebeslyrik, den ich draußen vergessen hatte, den wir am nächsten Morgen im Stacheldraht des Weidezauns finden sollten. Eine einzelne gelockte Seite, ein Gedicht von Ivan an Claire Goll, würde ich mit heim nehmen nach Berlin. Wir schliefen ein.

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45 / 2006
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