RELIGION
Christ im Selbstversuch
Eine Kirche hat Martin Fischer noch nie betreten - bis jetzt. Obwohl er wenig verstanden hat, will er wieder kommen.
Mein ganzes Leben lang habe ich die Kirche gemieden. Ich wurde unehelich gezeugt, ungetauft in die Welt entlassen und als meine Klassenkameraden Konfirmation feierten, nahmen mich meine Eltern mit auf eine Bootsrundfahrt. Einen Gottesdienst habe ich nie besucht. Hochzeits- und Beerdigungsfeiern stehen mir noch bevor. Christentum, das ist für mich wie das alte Griechenland: Weit weg, irgendwo da unten, wo unsere kulturellen Wurzeln liegen. Ein Ort, der einfach nicht auf meinem Weg liegt, den man aber trotzdem einmal besucht haben sollte. Und sei es nur zum Kurzurlaub.
Mein Mitbewohner empfahl mir, im Berliner Dom meinen ersten Gottesdienst zu besuchen. Da würden einfach die besten Leute auftreten, meinte er. Aber ich zog das Lokale und Authentische vor und ging in die Backsteinkirche unserer Straße. Das Programm versprach zwar nicht so viel, aber die Fotos auf der Website wirkten gemütlich und familiär. Am Abend zuvor fragte ich meinen Mitbewohner: "Zieht man da noch Sonntagskleider an? Was zahlt man für den Besuch? Muss ich eine eigene Bibel mitbringen?" Nichts dergleichen, meinte er, nur das Vaterunser sollte man beherrschen. Worauf ich sofort nach "vaterunser" googelte und noch im Bett versuchte, die Zeilen zu üben. Bei dem Ausspruch "erlöse uns von dem Bösen" brach ich mein Lernvorhaben ab.
Ich fühlte mich wie auf einer Insel inmitten der Stadt, als ich mich am Morgen in eine der mittleren Bankreihen setzte. Durch die bunten Scheiben glitzerte die Morgensonne und in weiter Ferne rauschte der Verkehr der Hauptstrasse. Mein Zuhause erschien mir weit weg, als der Pfarrer "auch die Gäste" unter der überschaubaren Zahl der Anwesenden begrüßte. Zwar verstand ich kaum eine Silbe der für meine Ohren ungewohnten Gesänge, und auch zum Beten fehlten mir ständig die Worte. Ich versuchte aber, zumindest beim Erheben und Setzen auf meinen Banknachbarn zu achten, nur um nicht sofort als plumper Inseltourist aufzufallen.
Der Pfarrer hielt einen Brief von Apostel Paulus in den Händen. Paulus war um rund 50 n. Chr. zwecks Gründung einer Gemeinde mit dem Schiff in die griechische Hafenstadt Thessaloniki gereist. Als er weiterzog, so wurde uns erklärt, hatte er an seine "kleine Gemeinde" in der "großen multikulturellen Hafenstadt" geschrieben, dass sie trotz großer Bedrängnis standhaft bleiben sollte. Und natürlich richtete sich Paulus mit seinen aufbauenden Worten nicht nur an seine Gemeinde in Thessaloniki, sondern auch ein wenig an uns hier in Berlin. Zum Dank wurde wieder gesungen und wieder verstand ich kaum ein Wort. Allmählich fühlte ich mich wie ein an den Strand gespülter Fisch, zwar auf einer schönen Insel, aber von Menschen umgeben, mit denen ich offenbar kaum eine Sorge teilte. Ich begann mich zu langweilen, das Zeremoniell berührte mich nicht. Meine Fingernägel machten sich an den Schraubenschlitzen der Kirchenbänke zu schaffen und in Gedanken begann ich bereits, die Bretter auseinander zu schrauben, um damit ein Floß zu bauen, auf dem ich flüchten konnte.
Beim Hinausgehen warf ich den Zehnten meines Honorars in die Kollekte, suchte schleunigst ein Café auf und bestellte einen Kelch heißer Schokolade sowie ein gebrochenes Brötchen. Gedankenversunken begann ich mir zu notieren, was ich gerade erlebt hatte. Ein paar Stichworte, mehr nicht. Ich hatte mich auf eine Insel verirrt, in der naiven Hoffnung eines Rucksacktouristen, Authentisches und Aufregendes, Ergreifendes oder Herausforderndes, aber wenigstens Lächerliches zu erleben. Stattdessen hörte ich von den Sorgen der Christen in der Stadt. Zweifellos mit Engagement vorgetragen - aber ganz offensichtlich nichts für einen Touristen, der zum ersten Mal den christlichen Glauben bereist und noch nicht einmal einen Reiseführer gelesen hat.
Ich verbrachte den Sonntagnachmittag ungefähr so, wie ein Städtereisender, wenn es draußen in Strömen regnet: Ich las in der Bibel nochmals die Briefe des Paulus, als ob ich im Reiseführer nachlesen würde, was ich alles im Regenwetter nicht hatte sehen können. Ich wollte eigentlich bereits die Rückreise in mein unchristliches Alltagsleben antreten, als plötzlich der Regen nachließ und befahl: "Versuch's nochmals!" Wenn es sein muss, nun doch in einem verkitschten Touristenparadies. Im Dom war das Interieur glänzender, der Sitzplatz komfortabler, die Robe der Prediger eleganter als in meiner Backsteinkirche. Hier konnte man sich auch als nichtsahnender Tourist einfach vom vielen Gold blenden lassen und in die prächtige Kuppel hinaufblicken, um dabei vielleicht die eine oder andere Bildergeschichte wiederzuerkennen.
Zwar wurde ich bereits am Eingang gefragt: "Gottesdienst oder Dombesichtigung?" Die diensthabende Theologin schien sich keine Illusionen darüber zu machen, dass wir Touristen im christlichen Glauben waren und unser Rückflug bereits gebucht war. Sie redete auch von Paulus, führte uns aber eher wie eine Reiseleiterin durch das griechische Thessaloniki, beschwor nicht den Zusammenhalt der Gemeinde, sondern pries das Wunder, das uns alle hier zusammengeführt habe, einzig um Gottes Wort erklingen zu lassen.
Ein kleines Wunder war es allemal: Ich habe zum ersten Mal dem Wort Gottes gelauscht. Verstanden habe ich nicht viel, weder vom Wort Gottes, noch von den singenden und betenden Christen. Doch wer versteht schon die Griechen nach seinem ersten Wochenende auf Rhodos, noch dazu einem unvorbereiteten und reichlich verregneten? Auf dem Rückweg fasste ich die Reise auf einer Postkarte an meine Eltern zusammen: "Herzliche Grüsse aus dem Christenland! Wetter war mies, aber Einheimische ganz freundlich. Werde beim nächsten Mal wohl eine Bildungsreise unter fachkundiger Begleitung buchen, mit anschließendem Badeurlaub am Strand der leichten Bibelsprüche. Wenn’s dann gefällt, vielleicht ein Ferienhaus kaufen. Aber keine Sorge, einbürgern lassen werde ich mich hier nicht so bald."
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39 /
2006
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