Hintergrund
So schmeckt die Freiheit
Sie nennen sich Piraten und sie wollen ins Parlament – in vielen Ländern Europas werden gerade Parteien gegründet, die sich für den freien Austausch von Wissen und Kulturgütern einsetzen
"Mein Name ist Rickard, und ich bin ein Pirat!" Wie oft Rickard Falkvinge diesen Satz in den letzten Monaten gesagt hat, weiß er wohl selbst nicht mehr. Der 34-Jährige ist die Galionsfigur der "Piratpartiet" in Schweden, der ersten und größten Piratenpartei Europas. Am 17. September tritt er als Spitzenkandidat zur Parlamentswahl in Schweden an.
Was vorher niemand für möglich gehalten hätte, ist Wirklichkeit: Seine Partei hat tatsächlich eine Chance, die Vier-Prozent-Hürde zu knacken und in den schwedischen Riksdag einzuziehen. Es wäre weltweit das erste Mal, dass eine Partei, die aus einer Netzbewegung hervorgegangen ist, im Parlament eines Staates sitzt. Die Probleme und Fragen, die aus der Nutzung des Internets resultieren, würden dann von den Abgeordneten genauso diskutiert werden, wie Gesundheitsreformen oder Bildungspolitik.
Schon jetzt ist die Piratenbewegung in zahlreichen europäischen Ländern angekommen, seit dem 10. September gibt es auch in Deutschland so eine Partei . Das taktische Ziel der Aktivisten: Bis 2009 wollen sie in allen Ländern der EU vertreten sein und geschlossen zu den europäischen Parlamentswahlen antreten. Ihre lauteste Forderung: Legalisiert Filesharing.
Doch hinter diesem plakativen Ruf nach unbegrenztem Datentausch steht ein ganz anderes Anliegen. "Wir wollen die Kulturhoheit nicht einigen wenigen Firmen überlassen", sagt der deutsche Piratenchef Christof Leng . Der Schwede Rickard Falkvinge drückt es poetischer aus: "Wir haben bereits die Freiheit geschmeckt, gespürt und gerochen". Nun wüssten alle, wie es ist, "ohne zentrales Monopol auf Kultur und Wissen zu leben." Was er sagen will: Weil Filesharing und unbegrenzte Kopien technisch nun mal möglich sind, kann sie niemand mehr verbieten.
Die Vision der Piraten ist das Internet als weltweit vernetzte Bibliothek, in der alle Kulturgüter und das gesamte Wissen der Menschheit gespeichert sind. Auf dem Weg dorthin gibt es ihrer Ansicht nach aber ein Problem, das über illegale Tauschbörsen hinaus reicht – die Vertreter der Bewegung nennen es "Pyramidenkommunikation". Neues Wissen wird patentiert, neu geschaffene Kunst unter Copyright gestellt. Die Befürchtung ist, dass am Ende ausgesuchte Schlüsselfiguren entscheiden, welches Wissen und welche Kultur sie der Allgemeinheit zur Verfügung stellen wollen - wie im Mittelalter.
Wer dieses Monopol missachte und auf eigene Faust Inhalte weitergebe, werde kriminalisiert, zum Piraten gemacht. Im Moment schützt das Rechtssystem die Interessen einer Minderheit, nämlich der Inhaber von Marken- und Urheberrechten. Mit künstlichen Barrieren wie dem so genannten Digital Rights Management (DRM) machen sie ihre eigenen Copyright-Gesetze. "Zum Erlassen von Gesetzen haben wir aber ein Parlament", wettert Rickard Falkvinge.
Dabei könnten Leute wie er ja selbst bald im Parlament sitzen. Hervorgegangen ist die schwedische Piratenpartei im Januar 2006 aus dem " Piratbyran " (Piratenbüro), das die Filesharer als plakatives Gegenstück zum " Antipiratbyran " der schwedischen Musiklobby gegründet hatten. Schon jetzt ist die junge Partei mit ihren 8.500 Mitgliedern größer als die schwedischen Grünen.
Wahlhilfe von unerwarteter Seite gab es Ende Mai. Als die schwedische Polizei bei einer Razzia einen Verteilerknoten für Raubkopien lahm legte und insgesamt 160 Server beschlagnahmte, gingen als Kollateralschaden einige hundert weitere Websites vom Netz, darunter auch die des "Piratbyran". Der hochgenommene Server hieß "Pirate-Bay" und an einen Zufall glaubte bei der Piratenpartei niemand. Doch die Freude der Strafverfolger und Musikanwälte über die Aktion währte nicht lange: Zwei Tage später war "Pirate Bay" wieder online und eine Diskussion um die Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes war entbrannt. Die Piratenpartei hat ihre Mitgliederzahl in dieser Zeit mehr als verdoppelt.
Die Wahl am kommenden Sonntag ist ein wichtiger Meilenstein für Schwedens Piraten, nirgendwo sonst sind die Bedingungen so gut: Schweden gilt als liberales Land, in dem Freiheit und Bürgerrechte in der Politik oft eine größere Rolle spielen als anderswo. Schnelle Internetanschlüsse sind fast überall verfügbar und günstig. Und etwa 20 Prozent der Bevölkerung, so wird geschätzt, sind aktive Filesharer, die nun Angst haben, kriminalisiert zu werden.
Doch in vielen übergreifenden Politikfeldern wird es für die europäischen Piratenparteien schwierig. Die meisten ihrer Anliegen, wie zum Beispiel die Vorratspeicherung von Telefon-Verbindungsdaten zu kippen, lassen sich nur auf EU-Ebene erreichen. Weil die nächsten Wahlen für das Europäische Parlament erst 2009 stattfinden, müssen sie noch einige Jahre im politischen Alltagsgeschäft bestehen, bis sie öffentlichkeitswirksam gemeinsam in den Wahlkampf ziehen können.
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38 /
2006
ZEIT online