Spurensuche
Was ist Neukölln?
Heute sind Wahlen in Berlin, auch in meinem neuen Viertel. Bevor ich mich entscheide, will ich sehen, was hinter dem schlechtem Ruf von Neukölln steckt. Das gleich vornweg: Eine einfache Antwort gibt es nicht
Ich lebe noch nicht lange in Neukölln. Und in dem knappen Jahr, in dem ich jetzt das sonnengelbe Eckhaus bewohne, hatte ich auch wenig mit diesem Bezirk zu tun. Alle Bilder, die ich mit Neukölln verbinde, sind Klischees: Mit Messern bedrohte Lehrer, türkische und arabische Jugendliche, die sich bekämpfen, Schultage unter Polizeischutz.
Die niedrige Miete, die schöne Wohnung und die verkehrsgünstige Lage waren für mich die besten Argumente, hier her zu ziehen. Und oft treibt es mich zurück in meinen alten Kiez. In Friedrichshain wimmelt es von Szenekneipen, in Neukölln findet man nur Urberliner Klausen, in denen man eine Feierabend-Molle, aber kein Beck’s Gold bekommt.
Neulich fragte ich mich, ob ich mir vorstellen kann, mein Kind hier aufwachsen zu lassen. Dann muss ich spätestens mit dreißig wirklich hier wohnen, dachte ich, während ich an Backshops und Restpostenläden vorbei trottete. Und nun das: Wahlen. Ich muss diesen Bezirk endlich kennen lernen, bevor ich mein Kreuz mache.
Ich kann nicht behaupten, dass ich mich in Neukölln direkt unwohl fühle. Meine Nachbarn sagen Guten Tag und Guten Abend , das Wohnhaus ist sauber und der Hinterhof gepflegt, mit rotbemützten Gartenzwergen auf dem Rasen. Vorn an der Ecke gibt es einen Spätverkauf. Davor sehe ich Gesichter, die manchmal verraten, dass das Leben dahinter irgendwie in eine Sackgasse geraten ist. Es wird getrunken und gelacht, zum Beispiel über Jogi Löw, der sich über einen 13:0 Sieg gegen San Marino freut. Angepöbelt wurde ich nie. Doch heute will ich weiter, als nur bis zur Ecke.
Mein erster Anlaufpunkt ist ein Friseurgeschäft. Der Meister ist 44 und ein echter Neuköllner. Er hat Zeit für ein Gespräch. "Vieles ist schlechter geworden", sagt er. In den Schulen wird randaliert und auf den Spielplätzen nachts gedealt. Alteingesessene deutsche Kleinhändler gehen reihenweise kaputt. Lob hat er für seine eigene Hausgemeinschaft übrig. "Das ist richtiges Multikulti." Er sagt, dass keine der ansässigen Kulturen die Oberhand habe, wie auch immer er das meint. Und, dass alle von den Unterschieden profitieren. Kann Neukölln sogar ein Modell für Deutschland sein? "Für die gesamte Gesellschaft geht das nicht", sagt Frisörmeister Hoffmann. "Jeder will sich seinen eigenen Kulturraum erhalten."
Ich ziehe weiter und denke über das Gespräch nach. Ob er wählen gehe, hatte ich noch gefragt. Ja, aber wen, das wusste er noch nicht. Die Bilder der Kandidaten auf den Plakaten findet er nichtssagend: "Die Politiker haben heute einfach kein Profil mehr. Brandt und Weizsäcker hatten noch Format."
Journalisten vereinfachen oft, wenn sie über Neukölln reden, soviel ist mir jetzt schon klar. Wie muss es Menschen gehen, die sich ehrenamtlich für den Stadtteil engagieren? Als ich im Stadtteilbüro um ein Gespräch bitte, reagiert die Frau dort schroff: "Schreiben Sie eine E-Mail mit einer Terminanfrage!" Anderswo läuft es besser. Eine Mitarbeiterin kopiert Unterlagen und läuft zwischen den Räumen hin und her. Sie bereitet die bevorstehende Anwohnerversammlung vor, Zeit für mich nimmt sich trotzdem. Die Frau ist jung, Diplom-Sozialwissenschaftlerin steht auf ihrer Visitenkarte. Wahrscheinlich hat sie erst vor kurzem ihr Studium abgeschlossen. "Vieles in Neukölln ist besser geworden", sagt sie. "Es gibt viele gute Modellprojekte, die die Integration der Migranten fördern." Auch sicherer wird es dadurch im Viertel. Geht es weiter? "Wenn die Gelder stimmen".
Klaus Wowereit hat einmal gesagt, dass Berlin arm sei, aber sexy. Auf Neukölln trifft dieser Satz vielleicht am ehesten zu. Es gibt hier mindestens zwei Cafés. Trotzdem fühlen sich die Straßen und Häuser nicht vertraut an und ob sie es je werden können, ist eine Frage, die ich so schnell nicht beantworten kann. In meinem Kopf geht es zu, wie bei einem Cartoon: Auf meiner linken Schulter sitzt ein Engel, auf der anderen ein Teufelchen. Sie diskutieren die ganze Zeit.
Vielleicht helfen harte Fakten: Ich wende mich an den Wirtschaftsverein Industrietreffen und erfahre, dass Neukölln an der wirtschaftlichen Flaute leidet. "Mit Aussicht auf Besserung." Das klingt vertraut, nach Friedrichshain, nach Mitte, nach Angela Merkel. Ein Aufschwung allein wird die Arbeitslosigkeit aber nicht beseitigen, denke ich nach der Unterhaltung. Die Wirtschaft lässt sich nicht vom Sozialen trennen. An manchen Grundschulen hier werden achtzig Prozent der Schüler auf Hauptschulen geschickt. Die Probleme sind vielschichtig. Jede Frage bringt mir nur eine Antwort, die mich zu neuen Problemen führt.
Und nun? Soll ich hier bleiben? Wählen gehen? Die Menschen, die ich hier getroffen habe, sind mit ihren alltäglichen Problemen beschäftigt. Ich habe das Gefühl, dass sie alle hier etwas verbessern wollen. Das gilt auch für den Friseur, der hätte seinen Laden ja auch in einem anderen Stadtteil eröffnen können. Statt dessen hat er das leer stehende Ladengeschäft unter seiner Wohung gemietet. Hier ist Heimat für ihn. Und für mich? Ich weiß es nicht. Da sind sich Engel und Teufel einig.
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38 /
2006
ZEIT online