Trampen
Daumen hoch!
Merkwürdig, dass kaum noch jemand trampt. Dabei macht es klüger und ist unschlagbar günstig. Man sollte nur einige Grundregeln beachten. Ein Anhalterguide von Eike-Bodo Benkert
Es begann eines Nachmittags im Nachbardorf – ich wollte nach Hause, hatte kein Auto und da ich nicht laufen wollte, streckte ich einfach mal den erhobenen Daumen raus. Wenige Minuten später saß ich auf der Rückbank eines grünen VW-Passats. Das Pärchen setzte mich sicher und komfortabel 100 Meter von meiner Haustüre entfernt ab.
An diesem Tag hat sich für mich eine neue Welt eröffnet: Ich wurde zum Routine-Tramper. Von nun an stellte ich mich fast jeden Morgen an die Bundesstraße und streckte meinen Daumen nach oben, um für meine Vorlesungen nach München zu kommen. Jedes einzelne Mal hielt ein Auto an – das hat sich bis heute nicht geändert.
Sehr schnell lernt man, sich so zu verhalten, dass man auch mitgenommen wird. Am wichtigsten ist ordentliches Aussehen. Denn beim Trampen gilt: Der Autofahrer muss innerhalb von wenigen Sekunden entscheiden, ob er den armen Tropf am Straßenrand sympathisch findet und anhält. Also meidet Mützen, Kapuzen oder Jacken mit hohem, weit ins Gesicht ragendem Kragen. Der Autofahrer muss das Gesicht sehen können, um den Tramper einzuschätzen – vermummte Personen sind nicht besonders vertrauenserweckend. Diese Maßnahme kann im Winter bei morgendlichen minus zehn Grad schon mal zu steifen Ohren führen. Aber was tut man nicht alles für eine Vorlesung.
Wichtig ist auch die Platzwahl. Wer nicht mitgenommen wird, hat oft schlichtweg den falschen Ort gewählt. Es nützt nichts, gut gekleidet zu sein, wenn man an einer Stelle steht, an der niemand anhalten kann. Nur sehr wenige Menschen werden einen Auffahrunfall riskieren, um einen Tramper mitzunehmen. Erfolgversprechend sind dagegen gut einsehbare Bushaltestellen und breite, nicht zu stark befahrene Straßen.
Regen ist ein Problem. Niemand will einen nassen Pudel auf seinem mit Krokodilleder bezogenen Beifahrersitz sitzen haben. Deshalb nimmt man einen Schirm mit, keine Regenjacke – er verhilft einem im Regen stehenden Tramper zu ein wenig mehr Würde.
Man achte auf die Uhrzeit. Es kann notwendig sein, eine halbe Stunde früher aufzustehen, um den Berufsverkehr auszunutzen. Wenn der Strom der Pendler erst mal versiegt ist, wird es schwer. Meist fahren dann nur noch Hausfrauen, die zum Einkaufen in den nächsten Ort wollen oder Rentner, die Tramper in die Kategorie "Bettler und Hausierer" einordnen und vorbeifahren, ohne einen auch nur anzuschauen
Hält einer, kommt die Stunde der Wahrheit: Das Auto und den Fahrer mustern, das Ziel erfragen, sich entscheiden. Hast du ein schlechtes Gefühl, lass es bleiben. Nicht selten bin ich schweißgebadet und mit zu hohem Adrenalinspiegel vor der Uni aus einem General-Logistics-Transporter ausgestiegen, weil sich der Fahrer auf der Bundesstraße ein Rennen mit Kollegen lieferte. Im Normalfall trifft man aber auf nette und ruhige Menschen, wie den freundlichen Iraner, der die ganze Fahrt euphorisch davon erzählte, wie sein Land die Teilnahme an der Fußball-WM geschafft hat. Oder sympathische Urbayern, von denen man im richtigen Gebrauch von altbayrischen Wörtern unterrichtet wird. Sehr schön war auch meine Reise mit einem jungen Geschäftsmann, der mich seine Sammlung an kopierten CDs durchschauen ließ und mir alle CDs schenkte, die mir gefielen. Merkwürdigerweise wird man öfter von Nicht-Deutschen mitgenommen. Es scheint, dass insbesondere Einwanderer wesentlich weniger Probleme damit haben, Tramper mitzunehmen.
Spannend sind die Nachrichten im Radio. Manchmal sprechen die Fahrer nicht, bis zu dem Augenblick, an dem die Nachrichten laufen. Danach reden sie dafür umso mehr. Generell gilt: Politik ist ein schwieriges Thema. Man kann eigentlich nur zustimmen oder bestenfalls zaghafte Kritik von sich geben, um nicht Gefahr zu laufen, an der nächsten Kreuzung aus dem Auto zu fliegen.
Angst musste ich noch nie haben. Manche Fahrer aber sind merkwürdig, wie etwa der eines weißen Opel Omega, der mich einsteigen ließ und sofort das Radio so laut aufdrehte, dass ein Gespräch unmöglich war.
Oder der verrückte Fahrer dieses seltsamen Mercedes. Ich musste zuerst den Beifahrersitz frei räumen. Also packte ich den alten Nadeldrucker, das Hirschgeweih, Unmengen von Papier, mehrere Messer, einige schon lange nicht mehr gewaschene Kaffeetassen und mindestens einen halben Meter Bücher und schaffte alles in den Kofferraum. Nachdem ich dann endlich im Wagen saß, begann der Mann sofort, mich über die Freimaurer und andere Weltverschwörungen aufzuklären. Die Fahrt von meinem Dorf ins Zentrum dauert im Normalfall höchstens vierzig Minuten. Mir kam’s wie Stunden vor.
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32 /
2006
ZEIT online