Suizid

Heute ist Schluss

Selbstmord ist romantisch, nichts für Spießer. Mehr Rebellion geht nicht: Man sagt schließlich Nein zum Leben an sich.

Von Cornelia Laufer

Selbstmord. Das klingt kriminell und schwer verboten. Doch alle 47 Minuten bringt sich in Deutschland ein Mensch um, alle drei Minuten versucht es einer, das sagt zumindest die WHO . Was ist eigentlich dabei?

Ist es nicht sogar bewundernswert, wenn jemand sagt: Heute ist Schluss? Schon Goethe hat damals einen wahren Selbstmord-Hype mit seinen " Leiden des jungen Werthers " ausgelöst. Der amerikanische Soziologe David Philipps nennt das den " Werther-Effekt " – der Freitod einer berühmten Persönlichkeit, einer Roman- oder Filmfigur dient als Vorbild für viele Nachahmer. So war es bei Werther, der sich im Roman aus Liebeskummer erschießt, so war es nach Hemingway und so war es nach Kurt Cobain.

Selbstmord ist die höchste Form der Rebellion, man rebelliert gegen sich selbst, gegen das Wesentlichste, gegen die eigene Existenz. Man sagt nicht nein zu einer Institution, zur Gesellschaft, sondern zum Leben an sich. Kurz vor dem Sprung, kurz vor dem Finale tritt ein Gefühl der Erleichterung, der absoluten Freiheit ein. Fast wie Fliegen. Bei Jugendlichen unter 20 Jahren sind Suizide die zweithäufigste Todesursache nach Verkehrsunfällen.

Selbstmord ist romantisch. Intellektuelle und Musiker begehen Selbstmord, Spießer und Hinterwäldler nicht. Die sind nicht reflektiert genug, nicht empfänglich für solch eine Unlust am Leben. Nur große Menschen zerbrechen sich den Kopf über die Welt, denken immer wieder im Kreis, bis sie müde werden. Des Lebens müde.

Nietzsche sagte mal: "Den freien Tod predige ich Euch, der nicht heranschleicht wie Euer grinsender Tod, sondern der da kommt, weil ich es will." Auch Samurai begehen Suizid. Für sie ist die "edelste Pflicht", sich nach einer Niederlage den Bauch aufzuschlitzen. Selbstmord hat Stil. Und irgendwie auch Sexappeal. Zumindest seit Kylie Minogue im Video zu " Where the wild roses grow " eine verführerische Wasserleiche mimte.

Doch wo ist die bittersweete Romantik, wo die Smashing Pumpkins, Doors und Nick Cave in Fällen wie diesem: Eine Freundin erzählte mir von ihrer Mutter, die an schweren Depressionen litt. Eines Tages sei sie zu ihr gekommen und habe um Erlaubnis gebeten, sich das Leben nehmen zu dürfen. Ist es da als Tochter egoistisch, "nein" zu sagen? Nein, lass mich nicht allein. Nein, du hast eine Verantwortung. Krieg verdammt noch mal dein Leben in den Griff und denk auch mal an meines. Wie könnte ich mit der Schuld leben, dass ich dir den Tod erlaubt habe? Und wie kann ich mit der Schuld leben, dass du meinetwegen weiterleben musst?

Selbstmord ist egoistisch. Man reißt sich heraus aus einem Netz sozialer Kontakte und hinterlässt blutende Enden. Jeder Selbstmord betrifft sechs weitere Menschen. Familie, Geschwister, Freunde – wer sich umbringt, lässt sie alle im Stich, haut einfach ab. Selbstmord ist so leicht.

In der zehnten Klasse haben wir im Ethikunterricht das Thema Suizid behandelt. Mein Lehrer hatte einen Haufen hochpubertärer Jugendlicher vor sich, die Nirvana cool und das Leben Scheiße fanden. Er war ein glühender Verfechter des Lebens. Immer wieder provozierte er uns im Gespräch, lockte uns mit seiner Argumentation in die Falle und bewies uns die Widersprüche in unseren Gedanken. Er sprach mit uns über mögliche Tötungsarten. Über das Springen. Springen fanden wir nicht so gut. "Warum? Habt ihr Angst, dass ihr es euch unterwegs nach unten anders überlegt? Dass auf einmal das Telefon klingelt? Dass ihr seht, wie jemand an eurer Tür steht? Seid ihr euch eurer Entscheidung so unsicher?" Wir liebten ihn.

Zwei Jahre später nahm er sich das Leben. Es war nicht so, dass wir ihm seine Entscheidung übel nahmen, wir kannten ja die Hintergründe. Aber wir begriffen, dass er mit seinen Appellen ans Weiterleben in erster Linie versucht hatte, sich selbst zu überzeugen. Ohne Erfolg. Die Mutter meiner Freundin hat übrigens eine Therapie gemacht. Es geht ihr gut.

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