11. September
Ich, Elendstourist?
Heute werden sich in New York wieder viele Menschen dort versammeln, wo einst das World Trade Center stand.
Ich beginne diesen Text nur ungern mit dem folgenden Satz: Das Wetter ist schön, ein wunderbarer Morgen in New York. Der Himmel ist blau und wolkenlos, wie vor fünf Jahren. Und warum etwas anderes schreiben, wenn ich genau daran denke? Ich trage eine bedrückte Stimmung mit mir herum, seit dem Aufstehen schon.
Dabei ist alles wie immer: Der Mann im Deli drückt mir unfreundlich meine Papiertüte mit Bagel und Kaffee in die Hand und plärrt "Next please!", als wäre keine Zeit zu verlieren. Ich nehme den nächsten Express-Train von der 88. Straße, der mich ohne umsteigen an die Wall-Street bringt, nur einen Steinwurf von Ground Zero entfernt. Es ist noch vor der Rush-Hour, ich kann sogar sitzen. Ein Blick durch den Wagen verrät nichts Neues: Menschen, die versuchen, sich möglichst nicht in die Augen zu sehen, die sich hinter der Zeitung verstecken oder das Frühstück to-go verschlingen.
Aus der U-Bahn heraus, stehe ich inmitten einer Armada von Ü-Wagen mit Satellitenschüsseln auf dem Dach. Das Loch liegt noch im kühlen Schatten. Gegenüber hängt eine riesige amerikanische Flagge an der Fassade des World Financial Centers, schon in die Morgensonne getaucht. Ich stelle mich irgendwo an das Gitter, das heute nicht nur Baustelle von Straße, sondern auch Zuschauer von Betroffenen trennt. Ich denke an die Vermissten-Anzeigen, die in den Tagen nach den Anschlägen hier überall zu sehen waren. Natürlich weiß ich das nur aus dem Fernsehen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier am richtigen Ort bin. Es ist 8.30 Uhr.
Zehn Minuten darauf versucht ein Polizist, die Fahrzeuge auf der Church Street hinter mir zu stoppen. Seine Trillerpfeife wird von den Glocken der umliegenden Kirchen abgelöst. Die erste Schweigeminute (Einschlag des ersten Flugzeuges) ist nicht wirklich schweigsam. Der Polizist hinter mir war erfolglos, die Autos fahren weiter, dabei wünsche ich mir in diesem Moment nichts sehnlicher als Stille. Seit meiner Ankunft in New York hatte ich keinen Moment der Stille mehr. Der Moloch aus Häusern und Straßen brüllt tagsüber, nachts singt er mich mit dem Klirren der Klimaanlagen in den Schlaf. Diese Stadt kommt nie zur Ruhe, auch nicht am 11. September 2006, dort, wo das World Trade Center war. Die Sonne bricht langsam durch die Wolken und unten beginnen sie, die Namen der Opfer vorzulesen.
Neben mir schluchzen Menschen, eine Frau klammert sich weinend an die Absperrung. Dahinter bewegt sich eine Menschenschlange über eine Rampe an die tiefste Stelle des Lochs. Dort legen sie Blumen nieder. Es folgt die zweite Schweigeminute für den Moment, als das zweite Flugzeug in den Nordturm krachte. Von einem Unglück war nun keine Rede mehr. Der Polizist versucht nicht mal, den Verkehr zu stoppen.
Ich entdecke eine Frau mit Taschenfernseher und sehe darauf die Menschen am Rednerpult. Noch immer im Hintergrund sind die Namen der Toten. Vor mir begrüßen sich lachend zwei Gruppen von Polizisten, einige davon im Schottenrock. Links daneben weint ein Mann, seine Lippen sind wund, als wären sie aufgebissen. In seiner Hand hat er eine Aktentasche; er trägt Anzug, Karohemd und feine Lederschuhe. Wahrscheinlich ist er auf dem Weg zur Arbeit. Im Hintergrund ruft jemand "Shit, shit!". Ein anderer packt ein Saxophon aus und spielt leise "Amazing Grace". Eine Touristin versucht, sich auf ihrem Stadtplan zu orientieren, die schluchzende Frau am Gitter hat sich zu einer Kamera gedreht und gibt ein Interview. Ich kann mich an keine so bizarre Situation in meinem Leben erinnern.
Es soll Menschen geben, die auf Beerdigungen gehen, nur um auf Beerdigungen zu gehen. Entertainment, Elendstourismus. Ich will so nicht sein. Schließlich kenne ich die Dramen, die sich hier abgespielt haben, nur aus dem Fernsehen. So komme ich mir vor, und beschließe, zu gehen. Unterwegs bittet ein Kerl im USA-Shirt einen jungen Feuerwehrmann um ein Autogramm, während dessen lässt er seine Videokamera laufen. Das Rote Kreuz verteilt Wasser und Schokoriegel. Ein Polizist schnauzt zwei Jungs mit einem Banner an: "The lies will not stand" steht darauf. Dann werden die beiden von Passanten beschimpft, aber anscheinend sind sie daran schon gewöhnt. Ein Mann hält ein Buch in die Höhe und schreit Unverständliches in die Menge, ich versuche den Titel des Buches zu entziffern und stolpere dabei über ein Kamerakabel.
Die Reihe der Namen und die Menschenströme reißen nicht ab. Eine Glocke ertönt, jetzt fiel der Südturm. Ich wußte nicht, dass die Zeit zwischen Einschlag und Einsturz so kurz war. Unter mir im Schacht donnert die U-Bahn.
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37 /
2006
ZEIT online