Tagebuch
Tour des unnützen Wissens
In Tourtagebüchern von Rockbands erfährt man von durchzechten Nächten und eskalierten Groupiegelagen. Aber nicht bei sometree. Die vier Berliner möchten lieber unnütze Dinge teilen
2. Juni Halle, Objekt 5
Dies ist die kleine Releasetour zu unserem neuen, verflixten Album. Alles ist an Bord: Instrumente, blendende Stimmung, Playstation und das Handbuch des unnützen Wissens. Mit durchwachsener Stimmung im Van, die aus den Spielergebnissen resultiert, rollen wir in Halle ein und geben vor Ort ein Interview. Der Fragende bittet als Einstieg ins Gespräch gleich um ein Autogramm und zückt den zu unterschreibenden Tonträger. Dieser ist zwar nicht unser neues Album, wir unterschreiben aber trotzdem gerne. Musikalisch unterstützt werden wir an diesem Abend von einer lokalen Progrock-Band, die Tool und Fleetwood Mac gekonnt und funky vereinen. Wir starten ähnlich funky. Unser Midi-Keyboard hat sich in der Zeit vom Soundcheck bis zu unserem Auftritt eigenmächtig umgestimmt, oder (wie Mukker sagen würden), ohne Außeneinwirkung von selbst transponiert. Sehr unvorteilhaft. Nichtsdestotrotz feiern wir mit lokalem Bier noch die Geburt unseres vierten Babys in unserer Pension. Zum Einschlummern gibt es für alle die erste Lektion aus dem Buch des unnützen Wissens: Manche Schlangen können bis zu 24 Stunden kopulieren. Wir sind baff und schlafen.
3. Juni, Wiesbaden, Schlachthof
Wie kann man nur so unfunky tanzen? werden sich einige Diskothekenbesucher auf ihrem Heimweg vom Schlachthof gefragt haben. Ich weiß es auch nicht. Vielleicht lag es an der Anwesenheit unserer Proberaumkumpanen von Kate Mosh, vielleicht waren es die lustigen Getränke, oder einfach die schlechte Musik. Vielleicht lag es auch an dem Schrank in Menschengestalt, der wie vom Himmel gefallen auf der Tanzfläche plötzlich Liegestütze machte. Schnell bildete sich um ihn herum ein Kreis, wie damals in den guten Breakdance-Zeiten. Einer aus unserer Gang nahm diesen Battle an und schmiss sich hinterher. Das waren keine 20!, schrie ihm der lebende Schrank entgegen. Vielleicht hatte er Recht, aber wir gingen ungeachtet dessen zu unserer Königsdisziplin, den Klimmzügen, über. Der kräftig Aussehende mutiert zum Schwanz einziehenden Schaumschläger. Selbst die Security wollte nicht mitbattlen, trotz netter Einladung. Um 4 Uhr werden die Bürgersteige hochgeklappt und wir rausgefegt. Wir entscheiden uns zwangsläufig für die Matratze. Bis auf Tourmanager André, der noch in ein Heavy Metall-Auto einsteigt und mit wildfremden Leuten und Slayer im Subwoover Nachschub in Sachen Durstbekämpfung besorgt. Allein auf dem Backstagesofa widmet er sich dann seinem frisch erworbenem Bier und der Lektüre unnützer Fakten: Sechs Tansanier tranken Insektizide gegen ihre Würmer; alle starben. Aus Angst läßt er prompt sein Bier stehen und legt sich nieder.
4. Juni, München, Tams Theater - Release Party
Wir sind in einem kleinen Münchner Theater aus den 60ern. Mit dabei: drei befreundete Bands, die alte Stücke von uns covern bzw. vollends neu interpretieren. Bewegt und um Wahrung der Männlichkeit ringend, gehen wir anschließend auf die Bühne und spielen erstmals unser neues Album komplett live. Unser Sänger Bernd gestand dem Publikum damals bei der Release-Party zu unserem zweiten Album, dass ihm die Zie knittern - dieser Abend hier in München ist ähnlich atemberaubend. Jan-Clark kommt selbst abends nicht mehr von seiner nachmittags erhaschten Koffeinüberdosis runter. In diesem Sinne der folgende Beitrag: Balzac starb an Koffeinvergiftung: Er trank pro Tag 50 Tassen starken schwarzen Kaffee.
5. Juni, Karlsruhe, Radio Oriente
Es ist Montag, was immer schwierig ist. Wahrscheinlich kommen alle nur wegen der Vorband, dachten wir. Aber dann stehen wir auf der Bühne und plötzlich ist der Laden, eigentlich ein Jazzclub, voll. Links und rechts sitzen die Leute auf Emporen und vor der Bühne stehen viele nette Badenser. Oder Schwaben? Ich kann es mir nicht merken. Morgens gehen wir dann im netten Café unseres Hosts frühstücken und verputzen die Reste der vorabendlichen Festivität; einer üppigen Geburtstagsfeier eines 70 Jahre alt gewordenen Herrn. Nachdem die Todesursache von Kaffeekettenmäzen Balzac jüngst enthüllt wurde, schieben wir nun eine weitere zum Themenkomplex Nahrung und Tod passende Wissenserweiterung nach: Thomas Otway war in Gefahr zu verhungern. Ein Unbekannter schenkte ihm ein Goldstück. Thomas Otway kaufte sich Brot und erstickte daran.
6. Juni, Köln, Blue Shell - Release Party
Gegenüber des Blue Shell steht der Nightliner der All American Rejects , die heute parallel zu uns in Köln spielen. Die sehen so süß aus, die Jungs. Und ihre Fans erst. Blutjung und schlau dreinschauend. Unser Stagenotebook hat es heute beim Soundcheck erwischt. Ein schlafender Virus, der pünktlich zum heutigen Tag des Teufels, dem 6.6.(200)6, hochgegangen ist. Wir besorgen uns aus dem nahe gelegenen Internetcafé neue teure Software und irgendwie läuft glücklicherweise alles wieder. Es gäbe noch weitere schöne Dinge dieser Art aus Köln zu berichten, aber hier genießt und schweigt die Band. Was ganz im Ernst aber grandios war: Die normalerweise über ganz Deutschland und Umgebung verteilten Jungs von Luke waren da und haben einen Song von uns gespielt. Und so auch Barry, der uns eine 1a Nine Inch Nails-Version unseres Schmuseliedes Nosebleed vorspielte. Unglaublich, wie auch diese Tatsache: Austern wechseln das Geschlecht je nach Wassertemperatur.
7. Juni, Berlin, Frannz - Release Party
Wir kommen zum Heimspiel, nachdem uns kurz vor den Toren Berlins ein Nagel den Hinterreifen platt machte. Zu Gast im Frannz sind heute sechs befreundete Bands, die uns eigenwillig interpretieren. Das geht schon wieder so extremst berührend unter die Haut, meine Güte. Ein wahres Fest, und das obwohl Tool in der Stadt sind. Basti nimmt das Fest volle Breitseite und endet im Loft unseres Vans, rutscht jedoch aus Sicherheitsgründen noch mal schnell runter, um sich vor die Tür zu bücken. Derartige Geschichten gibt es aber in Tourtagebüchern anderer Bands zu Hauf und spektakulärer nachzulesen. Darum lieber das: Fjodor Dostojewskij und Scott Fitzgerald waren Fußfetischisten.
8. Juni, Hamburg, Tanzhalle - Release Party
Der Abend endet mit einem zweieinhalb Stunden andauernden Schluckauf von Kumpel Niklas in der Küche der Künstlerwohnung, auf ominöse Weise im Kühlschrank abgestellten Schuhen von André und einer letzten wichtigen Durchsage: Die Amazonen glaubten, dass Lahme die besten Liebhaber seien, und brachen deshalb ihren männlichen Gefangenen die Beine.
Informationen wie diese werden oft unterschätzt, dabei lassen sich aus ihnen (nimmt man sich ein wenig Zeit dafür) viele Erkenntnisse gewinnen und diverse Mysterien erklären: Es leuchtet nun zum Beispiel ein, warum sich Skifahrer gegenseitig Hals- und Beinbruch wünschen. Ja genau. Wegen des überambitioniert angepeilten Geschlechtsaktes beim anschließenden Après Ski. Darüber hinaus erklärt diese Amazonen-Legende auch, warum die anfangs erwähnten Schlangen bis zu 24 Stunden lang Liebe machen können. Weil sie keine Beine haben. Wir sehen die Welt nun mit anderen Augen und fahren heim nach Berlin.
Hörprobe ( Quicktime Stream )
Seraph
What Makes You Sleep
Hands and Arrows
20 /
2006
Zuender