Film
Muss das sein?
Die Filme der „Berliner Schule“ sind vor allem eines: zäh. Müssen junge deutsche Regisseure ständig antriebslose Menschen in beige-braunen Wohnzimmern zeigen? Nein, das müssen sie nicht! „Schluss mit dem Gejammer!“
Gefühlte 80 Stunden, ächzt meine Freundin Betty, als wir aus dem neuen Film des gehypten deutschen Jungregisseurs Henner Winckler herauskommen. In Wahrheit waren es zwar nur die obligatorischen 90 Spielfilm-Minuten, doch Lucy ein Drama um eine allein erziehende Teenager-Mutter, strapaziert das Kino-Sitzfleisch tatsächlich aufs Äußerste. Wobei schon das Wort Drama total an der Sache vorbeiführt.
Das Seltsame an diesem Film ist: Man wartet die ganze Zeit darauf, dass etwas Schreckliches geschieht. Dass dieses Mädchen sein Kind verlässt, dass sie von ihrem neuen Freund misshandelt wird, dass ihre Mutter sie vor die Tür setzt. Es passiert: nichts. Alle Charaktere sind irgendwie okay und irgendwie ziemlich normal. Wie in einer Doku auf arte , nur dass es bei einer solchen Doku grundsätzlich einen roten Faden gibt. Einen solchen vermisst man in vielen Filmen der so genannten Berliner Schule: Die Gruppierung, zu der unter anderem die Regisseure Christian Petzold (Die innere Sicherheit, Gespenster), Benjamin Heisenberg (Schläfer), Thomas Arslan (Aus der Ferne), Christoph Hochhäusler (Falscher Bekenner), Ulrich Köhler (Bungalow), Henner Winckler (Lucy) und Valeska Griesbach (Sehnsucht) zählen, ist weniger ein fester Zusammenschluss wie bei den dänischen Dogma-Filmern, sondern eher eine stille Übereinkunft auf einen bestimmten Kino-Stil. Die Bilder bleiben extrem lange stehen, die Figuren bekommen sehr viel Zeit eingeräumt. Es ist eine sehr spröde Art der Erzählung, bei der die Form meist über den Inhalt regiert. Was haften bleibt, sind die Bilder. Und die sind zugegebenermaßen oft wirklich beeindruckend: Die märchenwaldig verwunschene Harz-Atmosphäre in Ulrich Köhlers Montags kommen die Fenster, die braun-in-braun-getönten mitteldeutschen Wohnzimmerlandschaften in Christoph Hochhäuslers Falscher Bekenner oder die urbanen Ostberliner Hochhausschluchten in Lucy.
Was aber auch zurückbleibt bei diesen Filmen, ist eine absolute Ratlosigkeit, wohin eigentlich die Geschichten darin verschwunden sind. In Montags kommen die Fenster bricht die junge Ärztin und Mutter Nina plötzlich aus ihrer familiären Scheinidylle aus. Als blinder Passagier landet sie in einem Hotel im Harz, trifft dort einen alternden Tennisspieler und es passiert: nichts. Keine Liebe, keine Affäre, nicht einmal eine Kommunikation.
Das ist durchaus beabsichtigt. Viele der Regisseure sagen ganz klar, sie seien nicht daran interessiert, von den großen Konflikten des Lebens zu erzählen. Sie zoomen lieber vom Großen ins Kleine, legen den Fokus auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Doch was sehen wir da? Schlecht gelaunte, maulfaule Phlegmatiker, die weder ihren Mitmenschen geschweige denn der Welt etwas mitzuteilen haben. Wie etwa der junge Mann in Falscher Bekenner: Dem 18-jährigen Armin fehlt es an nichts - außer an Elan und Begeisterung. Seine Eltern unterstützen ihn bei der Jobsuche, doch er hat Lust auf: nichts.
Das Unvermögen, sich mit so einer Figur zu identifizieren, liegt vielleicht gar nicht einmal so sehr an den Charakteren an sich, sondern an der Art, wie sie vom Regisseur ins Bild gesetzt werden. Es scheint manchmal, als ob sie dort nur hingestellt und dann allein gelassen werden. Diese seltsame Distanz, die vielleicht sogar bewusst als Stilmittel gewählt ist, überträgt sich auf den Zuschauer. Man findet keine Beziehung zu diesen Figuren - und möchte es auch gar nicht. Wenn die 17-jährige Teeny-Mutter in Lucy auch nach 90 Minuten noch genauso verwirrt auf ihrer Unterlippe kaut wie am Anfang, wird man schlicht und einfach schlecht gelaunt.
Was ist da los? Die allgemeine Orientierungslosigkeit schleicht sich offenbar auch in die Kinos ein. Das Problem ist das des wirklichen Lebens: Es geht uns noch nicht schlecht genug, um daraus ein wirkliches Drama zu machen. Aber richtig gut geht es uns eben auch nicht mehr. Die Lösung sehen viele Berliner Schüler daher darin, eine Bestandsaufnahme zu zeigen - orientierungslose junge Menschen, die sich auszeichnen in: nichts.
Das ist mir zu wenig. Es ist genug gejammert worden. Und wenn schon jammern, dann bitte mit Leidenschaft! Ich will das gute alte Drama zurück mit seinen Helden und Heldinnen. Jedenfalls möchte ich beobachten können, wie sich eine Figur entwickelt, wie sie kämpft, leidet, vielleicht am Ende auch grandios scheitert. Also: Her mit den unverbesserlichen Rittern, den leidenschaftlichen Träumern. Denn das sollte Kino bei allem Realismus nie verlieren: die Fähigkeit, Zuschauer zum Träumen zu bringen.
04 /
2006
ZEIT ONLINE