Gefühlslupe

Der Pfannkuchen-Fauxpas

Es gibt Momente im Leben, da fühlt man sich wie eine Marionette - dem Schicksal ausgeliefert. Mein Tipp: Nicht dagegen wehren

Von Almut Steinecke

Machtlosigkeit ist ein heimtückisches Gefühl. Machtlosigkeit lässt dich wie eine Marionette tänzeln, häufig mit ganz viel Ärger im Bauch: wenn dir das Leben was vor der Nase wegschnappt, du dich ausgeliefert und ausgetrickst fühlst. So seltsam es klingt: Wenn Machtlosigkeit in dein Leben tritt, darfst du dich auf keinen Fall gegen sie wehren. Du musst dich ihr freiwillig ergeben, denn nur dann besteht eine Chance, dass sich ihr mieser Charakter ins Positive wendet. Das könnte man jetzt ganz groß aufhängen, studieren lässt sich das aber auch an den kleinen Dingen des Alltags. Und sei es anhand eines Pfannkuchens.

Es war an einem Samstagabend mitten in Leipzig in einer Konzerthalle des Agra-Messegeländes am Rande der Stadt. Halbzeit beim viertägigen „Wave Gotik Treffen“, wo es mich und meine Clique alljährlich hin verschlägt an Pfingsten. So auch wieder letztes Jahr: Wir machten unseren traditionellen Trip zum Leipziger Gruftie-Festival mit einer Menge schöner Konzerte, die über die ganze Stadt verteilt sind, was unweigerlich zum Location-Hopping führt. Das wird manchmal ganz schön anstrengend, wie das halt so ist auf Festivals: Da muss man gucken, dass man sich zwischendrin stärkt an den Fressbuden rund um die Konzerthallen und die Nahrungsaufnahme nicht nur aus Flüssigem besteht. Mich überfällt dann immer eine für mich festivaltypische Sucht nach süßen Crepes, meine absoluten Lieblingspfannkuchen, die perfekte Unterlage für die anschließend nachgekippten Mengen an Met.

Also her damit. Mein Blick wandert durch die halbdunkle Konzerthalle, in einer Ecke erspähe ich einen Crepes-Stand, dem ich allerdings nur dann eine Chance geben werde, sofern er auch die von mir favorisierte Sorte (Nutella und Marzipan) macht. Er macht. Mit großen Augen bestaune ich den flüssigen Teig, der in einem langen, schlanken Tropfen auf eine glühende Scheibe aus Gusseisen gleitet, zu einem See verschwimmt, Blasen wirft, blubbert, sich zu einer Fläche verfestigt. Der Crepes-Verkäufer schiebt ein Messer unter den Teig und wendet ihn im Ganzen. Meine Zunge kauert im Mundwinkel als sich zwei Nutella-Kleckse spiralenförmig auf dem Crepes in die Höhe kringeln, ein paar kleine Blöcke aus elfenbeinfarbenem Marzipan daneben plumpsen, mit der Schoki sanft verschmelzen.

Ich schlucke, knistere mit dem 5-Euro-Schein in meiner Hand. Ich habe so eine Lust auf diesen Crepes, ich kann nicht die Augen von ihm lassen, ich begehre ihn so sehr, will am liebsten über die Theke in den Wagen hüpfen, den Verkäufer nach draußen drängen, die Türen schnell verriegeln. Und alleine sein mit meinem Pfannkuchen. Aber ich muss mich gedulden, der Crepes knuspert vor sich hin, während der Mann noch einen anderen Kunden bedient. Ich klimpere mit dem Glöckchenband, das ich um die Fessel meines Stiefels gebunden habe...

Da. Endlich. Der Verkäufer fährt mit dem Messer unter den hauchdünnen Teig, faltet ihn zusammen, legt den extragroßen Pfannkuchen auf einen Pappteller und reicht ihn mir mit einem Stapel Servierten. Ich zahle, vorfreudig schnuppernd, balanciere den Teller happy durch die Halle, wachsam die Konzertgrufties umschlängelnd, die auf den Beginn der nächsten Gruppe harren. Jetzt wird geschleckert, denke ich vergnügt und mache Halt bei meiner Clique, die ein Lager vor der Bühne auf dem Boden aufgeschlagen hat. Langsam gehe ich in die Hocke, hoppla, fast wäre mir alles noch vom Teller gerutscht, mein kostbarer Crepes, das wär’s ja gewesen! Vorsichtig, ganz vorsichtig stelle ich ihn auf dem Boden ab und lasse ich ihn kurz aus den Augen, um mein Geld in meinen Rucksack zu verstauen...

Splitter von Sekunden. Ein Wimpernschlag. Ein Atemzug. Der Moment im Zeitraffer. Ich sehe meine Hände, die vom Rucksack aus wieder in Richtung Pappteller wandern, ich sehe den Crepes vor mir, goldig und glänzend. Ein Windstoß lässt mich frösteln, eine Bewegung lässt mich erstarren, die Bewegung kommt von vorne: Ein scharfes Sausen durchschneidet von oben nach unten die Luft, mit voller Wucht landet ein grobsohliger Stiefel vor mir auf dem Boden. Mitten in meinem Crepes. Genau in meinem Pfannkuchen. Von dem ich noch nicht einmal abgebissen habe. Der Typ, dem der Stiefel gehört und der dicht an mit vorbei durch die Halle schreitet, hat mich nicht gesehen, hat einfach in meinen Teller getreten, die Schleckerharmonie mit einem Schritt zerstört. Mein Mund klappt auf, als ich den Crepes davoneilen sehe: Der Pfannkuchen klebt im Ganzen unter der Sohle des Stiefels, es sieht tatsächlich aus, als würde er vor mir davonlaufen. Ich will aufspringen, gleichzeitig bin ich wie gelähmt, ich realisiere nicht, was passiert ist, parallel wird mir das Unabänderliche klar, die Gefühle in mir rempeln sich an, „mein... Crepes“, ich flüstere heiser, fühle mich als Opfer der Umstände, ich bin – hilflos. Ausgeliefert. Aber nicht ausgetrickst. Mein schwarzer Kajal verläuft noch 30 Minuten später. Ich ergebe mich einem nicht enden wollenden Lachflash. Er geht als „Pfannkuchen-Fauxpas“ in unsere Festivalgeschichte ein. „Sorry“, gluckse ich der Machtlosigkeit entgegen, die mich schon vor Missmut tänzeln lassen wollte an ihren Marionetten-Fäden und nun irritiert den Ärger einwechseln muss gegen Humor. Aber gegen Situationskomik war ich schon immer gnadenlos wehrlos.

04 / 2006
ZEIT ONLINE