GEFÜHLSLUPE

Prosa(pannen)-Party

Letzte Seite. Letztes Kapitel. Jetzt noch ein Wort. Ein Satzzeichen noch. Dann ist das Buch zu Ende. Ich klappe es zu, streiche mit den Fingerspitzen über den Rücken des Einbands. Lege es zur Seite, setze mich aufrecht, die Hände gefaltet zwischen den Knien. Ich gucke in die Luft. Puste die Kerze auf dem Nachttischchen aus, trinke noch einen kleinen Schluck Merlot. Ich fühle mich seltsam zurückgelassen, in meinem Kopf lahmt ein "und jetzt?"-Gedanke – eine typische Momentdepression: so geht es mir immer, wenn ich ein Herzbuch ausgelesen habe.

Almut Steinecke

Vielleicht habe ich die falsche Einstellung, aber ich kann nicht aus meiner Haut: wenn ich ein Buch schmökere, will ich nicht bloß verbale Berieselung. Ich will mich nicht nur ein bisschen entertainen lassen, irgendwie, von irgendwem. Ich will immer berührt werden. In eine Geschichte sinken, die Seele atmet, ich will ihre Sätze mit den Augen abtasten und fündig werden auf der Suche nach einem Eingang, der hinter ihre Worte führt, deren Bilderwelt begehbar macht. Sowas können nur Herzbücher: Romane, die man absichtlich langsam liest, damit sie nicht so schnell aufhören. Und dann tun sie es doch irgendwann.

Wie der Abschied von einer großen Liebe

Auf das Lesehoch folgt immer der Absturz ins Leseloch, der umso tiefer ausfällt, wenn es erst mal keine weiteren Werke mehr gibt von dem jeweiligen Autoren. Ein Herzbuch auszulesen, ist wie der Abschied von einer großen Liebe. Alles, was unmittelbar danach folgt, kann nur ein fauler Kompromiss sein. Fehlkäufe sind vorprogrammiert. Das ist der Preis für das Prickeln – insofern sind Herzbücher eine zweischneidige Sache. Ich überlege, ob es mir besser bekäme, mich so einer Liaison mit Literatur erst gar nicht hinzugeben. Aber das wäre Augenwischerei. Dann hätte ich zum Beispiel nie die gedankliche Begegnung mit der österreichischen Autorin Elfriede Hammerl gemacht, ihr letztes großartiges Buch, das ich kürzlich erst auslas: Noch Tage, nachdem ich es endgültig zur Seite legen musste, grübelte ich über die von ihr erdachten Figuren nach, ertappte mich bei dem Gedanken daran, was die wohl jetzt alle gerade so machen, als würde die Geschichte irgendwo weitergehen.

Dabei hatte der Roman einen völlig banalen Titel, "Mausi oder das Leben ist ungerecht": Bestimmt eines dieser typischen Bücher über eine Frau Mitte 20, die in der Medienbranche arbeitet und gerade eine Krise hat (mit Männern), geschrieben von einer Frau Anfang 30, die in der Medienbranche arbeitet und gerade eine Krise hat (mit allem). So dachte ich abfällig, als ich die Autorin noch nicht kannte. Aber wie man sich doch täuschen kann in Titeln. Elfriede Hammerl ist zwar wirklich Journalistin, aber auf einem hohen Niveau frustriert, bissig, lustig, mit einer Sprache zum Löffeln. Anders als bei so mancher Schreiberin der Sorte "freche Frauen", denen oftmals ein verzweifelter Wille zum Witzigsein anzumerken ist; unorganische Geschichten mit spürbar unechten Dialoge zu lesen, ist wie die Unterhaltung mit einem Fassadenmenschen: Typen, die nicht authentisch sind, aus deren Mund nur Plastikblumen kommen.

Ich schmeiße eine Prosapannen-Party!

Ein durchgeknallter Plattensammler hat mal gesagt, er würde nur Scheiben von Bands bunkern, die sich aufgelöst haben oder von Künstlern, die verstorben wären, dann könnte er sicher sein, auf keine neuen kreativen Eingebungen mehr warten zu müssen. Soweit würde ich nicht gehen. Die von mir geliebten Helden dürfen gerne weiter leben und am besten nichts mehr tun, als immer nur zu schreiben. Susanna Tamaro, die mich beschenkte mit "Geh, wohin dein Herz dich trägt." Michel Birbaek, der mich verführte mit "Wenn das Leben ein Strand ist, sind Frauen das Mehr". Anette Göttlicher, die mich süchtig gemacht hat seit "Wer ist eigentlich Paul?". Amelie Fried, die mich neidisch werden lässt auf alle, die noch nicht ihren "Glücksspieler" gelesen haben oder "Liebes Leid und Lust". Einzig bei Thomas Mann muss ich nicht mehr auf ein Erlebnis hoffen, wie ich es etwa bei "Der kleine Herrn Friedemann" hatte: nach dem Lesen fühlte ich mich so high, als wäre ich vom Blitz getroffen.

Für meine Freundin Kira bin ich das längst. "Das wird aber langsam schon pathologisch", meinte sie neulich etwas besorgt. Wir saßen in einem Café, ich erzählte ihr von meinen Ups und Downs. Dass ich bei Herzbüchern immer nachzähle, wie viele Kapitel ich noch vor mir habe, nervös werde angesichts dahinschwindender Seiten. Dass ich nach jedem Auslesen unruhig in die nächste Buchhandlung tigere, wo ich dann regelmäßig ein miserables Werk erstehe, anstatt auf ein nächstes Herzbuch zu harren. Ich kann nicht mehr zählen, wie viele Prosa-Pannen ich schon auf diese Weise angeschleppt, in meiner Wohnung gestapelt habe, ungelesen, abgebrochen, mit Verachtung weggelegt. Vielleicht wirklich ein bisschen pathologisch das Ganze. Ich schlage Kira vor, eine Prosapannen-Party zu schmeißen, mit einem Bücher-Basar meiner Fehlkäufe, alle kostenlos zum Mitnehmen. Kira schaut mich aus den Augenwinkeln an, findet es aber insgesamt gut, dass ich mit meinen Fanatismus aufräumen will. Ich auch. Würde Platz schaffen, mir die Wartezeit verkürzen. Die neue Hammerl erscheint erst im März.

04 / 2006
ZEIT ONLINE