Gefühlslupe

Warten auf die Zukunft

Aggressionspotential bietet der Alltag auch dort, wo man es zunächst vielleicht gar nicht vermuten würde. In einer Warteschlange zum Beispiel, aber nicht in irgendeiner: die vor dem Zelt einer Wahrsagerin ist von ganz besonderer Qualität

Von Almut Steinecke

Samstag, früher Abend. Shopping-Endspurt fürs Wochenende, die City ist voll, in einer Einkaufspassage hechelt alles durcheinander. In der Mitte der Passage: ein Wahrsagerzelt. Vor dem Zelt: eine Menschentraube. Unter den Wartenden: ich. Was zum Teufel ich hier treibe? Dazu komme ich gleich. Erst einmal muss ich mich von einem Rollenwechsel erholen: Galt ich eben noch als ernstzunehmender, verantwortungsvoller Mensch, bin ich von jetzt auf gleich zu einem schlichten, realitätsverneinenden, unbedarften Persönchen geschrumpft, allein durch die Tatsache, dass ich mich hier angestellt, mich eingereiht habe, anstatt mit überlegenem Kopfschütteln weiterzuschweben. Das sagen mir die Blicke der übrigen Passanten, die uns mitleidig und befremdet taxieren. Die beiden alten Damen da hinten, die sich belustigt an die Stirn tippen oder der Intellektuelle da vorne, der uns über den Rand seiner Brille eine „düüüstere Zukunft“ prophezeit. Wahrsagerei ist nun mal im kollektiven Gedächtnis als Bullshit abgespeichert.

„Die lügt doch wie gedruckt!“

Es ist mir auch peinlich an diesem Ort auszuharren, deren bloßstellender Effekt nur noch davon übertroffen werden könnte, sich jetzt und hier alle Klamotten vom Leib zu reißen. Die Leute wissen ja nicht, was zum Teufel ich hier treibe. Aber dazu komme ich gleich. Erst einmal muss ich mich üben im Spießruten-Stehen für „Shoana-schaut-für-Sie-in-die-Zukunft“: die klassisch Glutäugige, Schwarzgelockte, die vorne im Zelt ihre Karten mischt. Und schon jetzt nicht nur Freunde hat. „Die lügt doch wie gedruckt!“, der Mann hinter mir moppert lauthals los. „Zweimal war ich jetzt schon bei der! Und nichts davon ist eingetroffen, was die gesagt hat!“ Eine ältere Dame vor mir wendet sich freundlich um: „Jetzt üben Sie sich doch mal etwas in Geduld! Warum stellen Sie sich denn sonst noch an?“, fragt sie, und eine junge Frau mit spitzer Nase und streng zurückgebundenen Haaren pflichtet bei: „Echt! Wer so skeptisch ist, braucht hier nicht zu warten, dann wär’ man auch viel früher an der Reihe.“ Vorwurfsvoll rückt sie ihren Zopf zurecht. Der Typ blinzelt schmallippig, „schon gut, schon gut, ich glaub ja dran... mal sehen, was sie diesmal so erzählt...“

Die ältere Dame trainiert weiter ihr nachsichtiges Lächeln, doch jenes rutscht ihr vom Gesicht, als sie sich wieder nach vorne dreht. Zwei schulpflichtige Freundinnen eines kaugummikauenden Piercing-Püppchens vor ihr haben sich unter die Wartenden gemogelt. Die Frau ruckelt erbost am Arm des jungen Mädchens, „wenn das alle so machen würden! Da wundert sich unsereiner, warum das hier so lange dauert!“ Die Kaugummikauende guckt gelangweilt. „Was’n, haben Sie Ihre Tage oder was? Jetzt üben Sie sich doch mal etwas in Geduld...?“, kichernd stecken sie und ihre Freundinnen die Köpfe zusammen. Der schmallippige Typ grinst schadenfroh, die ältere Dame schweigt gekränkt. Und ich staune ob der gespannten Atmosphäre hier.

Ein bisschen Farbe in den Alltag pinseln

Dabei könnten doch alle viel gelassener sein. Es braucht doch nur die richtige Einstellung. Zu einem Wahrsager zu gehen, ist für mich – wie ein Glas Wein zu trinken. Es ist für den Moment und hat eine beruhigende Wirkung (Wahrsager geben nie was Negatives von sich, schließlich wollen sie Geld verdienen). Wenn ich zu einem Wahrsager gehe, nehme ich selbstverständlich kein Wort von dem was er sagt für bare Münze, aber darum geht es auch gar nicht. Sondern nur darum... sich inspirieren, sich unterhalten zu lassen. Eine Möglichkeit von vielen, ein bisschen Farbe in den Alltag zu pinseln. An Pfingsten fahre ich immer zum „Wave Gotik Treffen“ nach Leipzig, einem viertägigen gruftigen Festival: Im „Heidnischen Dorf“, einem Mittaltermarkt mit ritterlichem Rapunzel-Flair wimmelt es natürlich nur so von Wahrsagern, und ich habe es mir zur Tradition gemacht, mindestens einen von ihnen dort aufzusuchen. Weil der Besuch beim Wahrsager wie ein kleiner Wellness-Trip ist. Weil da Sätze fallen wie, „Menschen mit deinem Sternzeichen werden immer Geld haben“ oder „auch wenn die Dinge sich nicht immer einfach gestalten, du wirst deinen Weg nie aus den Augen verlieren“.

Sätze, die man als Blödsinn abstempeln kann. Klar. Aber ich lasse mir gerne mal ganz bewusst solchen Blödsinn erzählen, man muss die Sätze nur richtig zu handeln wissen, sie in den Hinterkopf stecken und in kalten Zeiten wieder hervorholen, damit sie im richtigen Moment ihren warmen Schein entfalten. So entspannt scheint man das hier und heute aber nicht zu sehen. Vielleicht weil die Menschen zu sehr Angst haben, um sich, um ihre Zukunft, und weil die Zeiten zu schwierig sind momentan. Vielleicht weil die Frau da vorne im Zelt ja doch mal Recht haben könnte, die Leute das von einer völlig Fremden aber irgendwie unheimlich finden, wobei sie im Grunde nur ihren Unmut darüber kompensieren, dass sie selber eigentlich nicht viel wissen über sich. Und vielleicht braucht es auch eher einen verzauberten Rahmen wie ein viertägiges Festival in Leipzig, um in die richtige Stimmung zu kommen. Don’t know. Ich ziehe meinen Schal bis an die Nasenspitze und: verlasse die Schlange. Mische mich unter die Passanten in den Shopping-Endspurt, wechsle binnen Sekunden wieder das Rollenfach, denn an diesem Samstag, früher Abend, ist noch nicht die Zeit für meinen Wellnesstrip. Aber Pfingsten kommt bestimmt. Und im Übrigen ist mein Kühlschrank leer.

04 / 2006
ZEIT ONLINE