Suizid

Jenny meldet drei Versuche

Täglich versuchen 40 Kinder und Jugendliche in Deutschland, sich das Leben zu nehmen. So wie Jenny aus Düsseldorf. Dem Zuender erzählte die 16-Jährige ihre Geschichte. (Archiv 2005)

Von Almut Steinecke

„Lieber nicht”, das Mädchen schüttelt den Kopf. Sie möchte in unserem Bericht nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden. Ein Fantasiename soll her. Wie würdest du deine Tochter nennen? „Ich will keine Kinder!“, sagt sie schnell. Gut, es ist nur ein Gedankenspiel. Vielleicht Jenny? „Okay“, die 16-Jährige lächelt ein halbes Lächeln. Das mit den Kindern sei ihr eben so rausgerutscht, „sorry“. Jenny ist überzeugt davon: „Wir haben in unserer Familie kein Gen dafür.“ Mutter zu sein. Geborgenheit, Sicherheit, Liebe zu geben. Jenny weiß nicht, wie sich das anfühlt. Mit 14 starb ihre Hoffnung, es noch zu erfahren. Und da wollte auch Jenny nicht mehr leben.

Wir sitzen im Jugendheim Steinberg in Remscheid, seit zwei Jahren Jennys neues Zuhause. Der Nachmittag verliert langsam an Licht. Die Vergangenheit ist dunkel. Jenny kommt nur zögerlich voran. Beguckt sich ihre Hände, streicht sich ihr langes Haar zurück. Seit sie denken kann, gab es immer nur Streit mit ihrer Mutter. Ums Null-Bock-Gehabe - aber nicht um Jennys. Es war ihre Mutter, die keinen Bock hatte: morgens aufzustehen, den Haushalt zu regeln, Jenny und ihre Zwillingsschwester Nina* zu versorgen. Manchmal tauchte sie irgendwo ab, weil sie Ärger mit ihren Typen hatte. Keinen Bock auf die Mutterrolle. Und Stress mit Jenny, weil die gerne Tochter sein wollte und es nicht durfte. Weil sie als Teenie mahnte, wie sonst Mütter mahnen, konfrontiert mit einer Mama, die trotzte, wie sonst Teenies trotzen. Verkehrte Welt. Mama ist auch nicht das richtige Wort. Papa auch nicht? „Keine Ahnung. Hab ich noch nie gesehen.“ Von ihrem Vater weiß sie nichts. Ihre Mutter hat nie etwas erzählt, als hätte sie zum Kindermachen keinen Mann gebraucht. Später hatte sie schon Männer, aber nur solche, die sie mies behandelten. „Im Moment hat sie ein Hoch, weil ihr Freund sie gerade mal nicht betrügt.“ Jenny zieht hämisch einen Mundwinkel nach oben. Alkohol? Drogen? Nein, das war nie das Problem. Massive Depressionen einer Mutter, die ganze Tage nicht aus dem Bett kam, waren das Problem. Ein Alltag, der nicht lief.

Ein typischer Nährboden für jugendliche Selbstmordgedanken, sagt Ute Projahn, Leiterin des Remscheider Jugendheims, „weil die Kinder keine verlässlichen Beziehungen erfahren. Sie versuchen verzweifelt, die instabile Familie, in diesem Fall die Mutter, zu retten. Das kann ein Kind natürlich nicht leisten.“ Auch Jenny nicht. Das macht sie traurig. Also strickte sie sich ein Muster zum Überleben. Bewahrte den Alltag mit Wut vor dem Auseinanderbrechen.

„Ich wollte . . . dass es mich umfährt . . .“

Bis zum Sommer 2003. Da stand plötzlich auch ihre Schwester morgens nicht mehr auf. „Nina hat nicht mehr durchgehalten.“ Sie wurde depressiv. Da wollte auch Jenny nicht mehr. Wollte raus aus einem Leben, das nur auf Durchhalten getrimmt war. Sie sprach nicht direkt von Selbstmord, „ich hab nur zu meiner Mutter gesagt, dass ich eine Auszeit brauche. Da ist die komplett ausgetickt.“ Hat Jenny ins Auto gezerrt, ist mit ihr nach Remscheid gefahren in das Heim für heimatlose Jugendliche. Das Auto ihrer Mutter hielt, Jenny stolperte auf die Straße, fiel weinend auf die Knie. „Ich hab geheult, bitte lass mich nicht hier.“ Sie weiß noch, wie die Mutter aufragte über ihr, mit leicht zusammengekniffenen Augen, wie jemand, der etwas in der Ferne betrachtet. Wie sie anfing, in ihrer Tasche zu kramen, ein Feuerzeug herausangelte und sich eine Zigarette anzündete. Sie blies Rauchkringel, als hätte sie gerade Mittagspause. Ihre Augen: ausdruckslos. „Sie hat mir eine Telefonkarte gegeben, ruf mal an, hat sie gesagt. Hat ihre Kippe weggeschnippt, sich umgedreht.“ Jenny starrte dem abbrausenden Auto hinterher. Sprang auf die Füße und lief los. „Ich hab mich in den Bus gesetzt, bin irgendwohin gefahren. Ich bin ausgestiegen, bin irgendwohin gelaufen.“ Jenny kam an einer Telefonzelle vorbei. „Da hab ich gedacht, jetzt mach ich Schluss.“ Sie wählte die Nummer ihrer Oma, die Mutter ihrer Mutter, zu der sie eine gute Beziehung hat. „Ich hab gesagt, du Omi, ich lieb dich ganz doll, aber ich werde mich jetzt von dir verabschieden, weil ich mich aus dem Leben verabschiede. Dann habe ich schnell aufgelegt…“

Jennys Stimme versagt. Die Erinnerung überwältigt sie. Wie sie aus der Telefonzelle auf die Straße gewankt ist. Mittlerweile war es dunkel, die Scheinwerfer der Autos flirrten umher. Sie fühlt die Gleichgültigkeit von damals. Ein kaltes Schwarz, so tief und hohl, wie Jenny es noch nie erlebt hatte, während ihre Beine sie auf die Straße trugen. Jenny stellte sich mitten auf die Fahrbahn. Mit hängenden Armen schaute sie dem Auto entgegen, das auf sie zugerast kam. „Ich wollte, dass es mich umfährt. “Helle Scheinwerfer, die den Blick blenden. Das Quietschen der Reifen auf dem Pflaster. Der Fahrer, der die Wagentür aufstößt, brüllt. Wie in Trance drehte Jenny sich um, lief weg, durch die Straßen zum Haus ihrer Oma. Die kam ihr schon mit einem Suchtrupp entgegen, unter ihnen auch Jennys Mutter. „Selbstmord gibt’s nicht“, sagte sie nur, bugsierte Jenny ins Auto und fuhr das Mädchen in die Düsseldorfer Psychiatrie. „Ich hab gebissen und getreten.“ Weil sie weiterhin als suizidgefährdet galt, kam sie für sechs Tage in die geschlossene Abteilung. Sie schlief „in einem Zimmer aus Glas, in dem man mich von allen Seiten aus beobachten konnte. Ich war nur zugedröhnt mit Zeug.“

Mehr tat man nicht für sie. Jenny wurde entlassen, kam wieder nach Remscheid. „Alles so kalt.“ Als sie alleine in ihrem Heimzimmer ist, holt sie mechanisch ein Messer hervor, das sie in der Jacke hat. Setzt sich auf einen Stuhl. Guckt aus dem Fenster. Schneidet sich langsam die Arme auf dabei. „Der Schmerz hat mich entspannt“, sagt sie. „Und mit dem Auto hat’s ja nicht geklappt...“ Das Blut rinnt ihr die Hände hinunter, als ein Betreuer ins Zimmer kommt.

Gedanken, die wie im Dampfkessel brodeln

Diesmal blieb Jenny vier Monate in der Psychiatrie. Ihre Oma besuchte sie, streichelte ihr den Kopf. Der einzige Lichtblick. Auch eine Therapeutin sprach mit ihr. „Aber die hat gesagt, ich soll kalt duschen, wenn’s mir schlecht geht.“ Jenny lacht hart auf. Am 16. Dezember 2003 zurück nach Remscheid. Jenny schottete sich ab, wollte nach wie vor nichts wissen von dem Heim. Am 10. Januar 2004 rief sie ihre Mutter an. Bettelte, wieder nach Hause zu dürfen, suchte Halt. „Ich hab sie gefragt: Warum liebst du mich nicht?“ Ihre Mutter entgegnete nur, sie könne sich abschminken, je wieder nach Hause zu kommen. Jenny legte auf.

Scharfe Gegenstände hatten die Betreuer aus ihrem Zimmer entfernt, aber irgendwie schaffte sie es, ein Messer aus der Küche zu schmuggeln. Wieder schob sie den Ärmel ihres Pullis hoch, setzte die Klinge an, ritzte in die Haut unterhalb der Hand. „Ich habe meinen Unterarm betrachtet. Ich habe gedacht, ich sperr die Tür ab und schneide einfach weiter, ich könnt es jetzt beenden, der ganze Scheiß könnte vorbei sein.“ Das Mädchen spürte die Spitze des Messers. Den Schweiß zwischen ihren Fingern. Den Griff, der sich fest in die Handfläche drückte. „Es war ein schöner Gedanke zu sterben, und gleichzeitig hatte ich Angst, dass das Leben dann wirklich vorbei ist. Plötzlich sah ich auch das Gesicht meiner Omi vor mir. Hab plötzlich gedacht, du kannst das nicht machen, du bestrafst ja deine Omi...“ Jenny hält einen Moment inne. Putzt sich die Nase, streicht sich die Haare aus der Stirn. „Ich hab’s gelassen. Hab meinen Arm verbunden und bin in die Küche zu den anderen gegangen.“ Die merkten sofort, was los war. Jenny kam wieder in die Psychiatrie und blieb dort noch einen Monat. Danach begann eine Therapie in Remscheid. Dort ist die 16-Jährige heute noch.

Christa Hömmen-Gornik hat das Buch Mal sehen ob ihr mich vermisst über Suizide bei Kindern und Jugendlichen geschrieben. Sie beschreibt es so: „Die Gedanken des Jugendlichen brodeln wie in einem Dampfdruckkessel, bewegen sich in Kreisläufen, aus denen er von selbst nicht mehr herauskommt. Die Therapeutin lüftet den Kessel, lässt Druck ab. Begleitet den Jugendlichen in einen Bereich, der vorher tabu war, weckt hier nach und nach wieder die Lebenshoffnung – wenn sie gut ist.“ Ist sie, Jenny nickt. „Ich fühle mich wohl. Meine Therapeutin hört mir zu. Ich kotze mich aus. Das tut gut.“ Schwester Nina wohnt mittlerweile auch im Heim. Seit kurzem macht Jenny eine Ausbildung zur Kinderpflegerin, hat ein Praktikum bei einer Familie mit kleinen Kindern. „Voll süß, wie die herumtoben. So unbesorgt.“ Jenny lächelt wieder ihr halbes Lächeln. Sie will keine Kinder, sagt sie. Sie wäre eine schlechte Mutter, das will sie keinem antun, sagt sie. „Aber ich sag ja nicht, dass ich Kinder nicht lieb haben kann. Solange es nicht meine eigenen sind, ist alles halbwegs in Ordnung.“ Solange sie nie mehr nach Hause muss, auch.

46 / 2005
(c) ZEIT online, 21.11.2005