Borderline-Syndrom
Seelensalat
Neben dem Fleisch Carolin steht ihre verworrene, zerrissene, wunderliche Seele, die nicht weiß, was anfangen mit der Welt und mit dem Fleisch namens Carolin. Carolin ist Bordelinerin. Was in diesen Menschen vorgeht, weiß niemand so genau. Ein Annäherungsversuch
Die Grenze. Diesseits, jenseits.
Carolin ist Ende Zwanzig und sieht ziemlich gut aus. Schlank, dunkler Teint, dunkle, halblange Haare, ebenso dunkle, ein bisschen rätselhafte Augen. Die Männer drehen sich nach ihr um. Wenn sie, die Männer, Carolin etwas näher kennen lernen, fühlen sie sich angezogen. Warum wissen sie nicht so genau, abgesehen davon natürlich, dass Carolin gut aussieht. Aber da ist noch was. Etwas Geheimnisvolles, nicht Fassbares, Verletzliches. Vielleicht ist es das, was die Männer zu Carolin hinzieht: das Unbekannte, Unentdeckte. Männer wollen entdecken, erforschen, erobern, besitzen. Manchmal auch beschützen. An Carolin scheitern sie. Alle. Plötzlich ist da diese Mauer zwischen Carolins dunklen, rätselhaften Augen und den Männern. Man sieht sie nicht, diese Wand, bemerkt sie erst, wenn man dagegen stößt. Plopp, wie Gummi. Plopp, plopp, weiter geht’s wirklich nicht.
Na gut, dann geh ich eben wieder, sagen sich die Männer. Manche sind etwas hartnäckiger und versuchen sich eine Weile in fürsorglicher Belagerung. Irgendwann bemerken sie vielleicht die Narben auf Carolins Armen. Viele Narben. Schmale längliche und kleine runde. Man sieht sie kaum noch. Vor ein paar Jahren trug Carolin manchmal ein kleines, blaues Tuch um den Arm geschlungen. Dort, wo die Wunden noch frisch waren. Dort, wo die Rasierklinge, das Messer, ohne nennenswerten Widerstand durch die Haut gedrungen war, dort, wo zwischen weißen Rändern Blut hervorsickerte. Dort, wo die Zigarette zischend hässliche Löcher ins Fleisch brannte. Dort, wo der Schmerz war. Dort, wo das war, was noch lebte. Dort, wo Carolin sich noch spürte, wenn sie nichts mehr spürte. Nicht sich, nicht das Leben, nur den Schmerz. Wo statt Leere wenigstens Leiden war.
Neben sich stehen, man sagt das so. Carolin sagt das selten jemandem. Sie steht da nur. Neben sich. Neben dem Fleisch Carolin steht ihre verworrene, zerrissene, wunderliche Seele, die nicht weiß, was anfangen mit der Welt und mit dem Fleisch namens Carolin. Seelentransplantation. Man müsste das Ding einfach herausnehmen können wie ein kaputtes Hüftgelenk. Raus mit dem deformierten Organ, die Erinnerungen, von denen keiner weiß, gleich mit. Und was Neues rein, mit Gefühlen, mit Liebe, mit dem ganz normalen, banalen, gewöhnlichen Leben.
Die Grenze. Kontrollposten.
Anne ist Psychologin, hat nach ihrem Studium ein paar Monate in einer Suchtklinik gearbeitet. Heute fährt sie jeden Morgen zu viele Kilometer über Land und betreut in einer Klinik für Psychosomatik Menschen mit Problemen wie Bulimie, Anorexie, Angst. Seit ein paar Tagen, sagt sie, weiß sie wieder, warum sie damals nicht Medizin studiert hat. Da muss man hart sein, Blut und andere schlimme Dinge sehen können. Vor ein paar Tagen hat sich eine Patientin aus Annes Gruppe beide Arme aufgeschnitten. Nicht die Pulsadern, nein, sondern die andere Seite. Immer quer rüber, von den Handgelenken bis zu den Schultern. Als die Arme bandagiert waren und die Beruhigungsmittel nachließen, hat sie am Hals weiter gemacht. "Borderline", sagt Anne, und es klingt schon ziemlich abgeklärt. Was genau in Borderlinern vorgeht, weiß sie auch nicht. Das weiß niemand so genau. Anne kennt nur die Symptome. Depressionen, Ängste, Realitätsverlust, Depersonalisierung, Identitätsdiffusion. Bindungsunfähigkeit, oft verbunden mit übertriebener Promiskuität. Autoaggression, Gefühlsstörungen, innere Leere, starke Emotionsschwankungen, suizidale Tendenzen und noch ein paar andere. Die müssen nicht alle auftreten. Fünf davon reichen, um die Diagnose "Borderline-Syndrom" zu stellen.
Der Begriff "Borderline-Syndrom" ist ein aus der Psychoanalyse stammendes theoretisches Konstrukt. Psychische Auffälligkeiten, die auf der Grenze zwischen Neurose und Psychose lagen, mit denen man nicht so recht wusste wohin, waren "Borderline". Die Begrifflichkeiten haben sich ein wenig verschoben, heute ist Borderline eine definierte Persönlichkeitsstörung – und mittlerweile eine der verbreitetsten. Frauen sind überproportional betroffen. Borderline ist zum Teil therapierbar – heilbar ist es nicht. Anne weiß das natürlich. Und sie kann nur so behandeln, wie eben behandelt wird: Einzelgespräche, Gruppentherapie, bei schlimmen Schüben Psychopharmaka. Berichte schreiben. Nach ein paar Wochen auf Station geht’s zurück ins "Leben". Manche Patienten kommen wieder, einige bringen sich um, was mit den anderen wird, weiß Anne nicht. Sie kennt das schon aus der Suchtklinik. Anne kennt auch Carolin. Flüchtig. "Borderline", sagt sie, und es klingt wieder ziemlich abgeklärt. Anne hofft, dass Carolin niemals hier auftauchen wird.
Die Grenze. Diesseits. Meistens
Carolin hat die Klinik schon hinter sich. Dort lernte sie damals einen Mann kennen, einen Jungen eigentlich noch. Der ist ein bisschen weiter gekommen, als die Männer, die Carolin heute zu erobern versuchen. Die Wand aus Gummi war plötzlich ein bisschen durchlässiger. Der Junge hat sich dann selbst aus dem Leben genommen. Borderline. Die Grenze ist verdammt dünn.
Heute kommt Carolin einigermaßen klar. Die Wunden auf den Armen sind verheilt. Die auf der Seele zum Teil. Zuletzt hat sie eine Ausbildung gemacht, ziemlich stringent, so was ging früher gar nicht. Was das eigentlich soll, wozu das alles gut ist, ist ihr immer noch nicht klar. Und niemand weiß, ob sie weiß, warum sie so ist, wie sie ist. Warum sich ihre Seele manchmal noch windet und aufbäumt und manchmal einfach nur so in der Ecke liegt. Die gängigen Erklärungsversuche für Carolins Probleme sind: schlimme Kindheit, sexueller Missbrauch, Konflikte im Jugendalter, traumatische Erlebnisse. Carolin hatte eine normale Kindheit, soweit man weiß. Normales, kleinbürgerliches Elternhaus, kein Trennungskind. Zu ihren Eltern hat sie ein normal gutes Verhältnis. Wie es scheint. Über außergewöhnliche Konflikte in der Pubertät ist nichts bekannt. Traumata, Missbrauch? Niemand weiß darüber etwas. Außer vielleicht Carolin. Die nicht darüber redet. Nur versucht, zu leben. So gut es eben geht.
Von André Hennig
alle Namen geändert
Die Grenze. Diesseits, jenseits.
Carolin ist Ende Zwanzig und sieht ziemlich gut aus. Schlank, dunkler Teint, dunkle, halblange Haare, ebenso dunkle, ein bisschen rätselhafte Augen. Die Männer drehen sich nach ihr um. Wenn sie, die Männer, Carolin etwas näher kennen lernen, fühlen sie sich angezogen. Warum wissen sie nicht so genau, abgesehen davon natürlich, dass Carolin gut aussieht. Aber da ist noch was. Etwas Geheimnisvolles, nicht Fassbares, Verletzliches. Vielleicht ist es das, was die Männer zu Carolin hinzieht: das Unbekannte, Unentdeckte. Männer wollen entdecken, erforschen, erobern, besitzen. Manchmal auch beschützen. An Carolin scheitern sie. Alle. Plötzlich ist da diese Mauer zwischen Carolins dunklen, rätselhaften Augen und den Männern. Man sieht sie nicht, diese Wand, bemerkt sie erst, wenn man dagegen stößt. Plopp, wie Gummi. Plopp, plopp, weiter geht’s wirklich nicht.
Na gut, dann geh ich eben wieder, sagen sich die Männer. Manche sind etwas hartnäckiger und versuchen sich eine Weile in fürsorglicher Belagerung. Irgendwann bemerken sie vielleicht die Narben auf Carolins Armen. Viele Narben. Schmale längliche und kleine runde. Man sieht sie kaum noch. Vor ein paar Jahren trug Carolin manchmal ein kleines, blaues Tuch um den Arm geschlungen. Dort, wo die Wunden noch frisch waren. Dort, wo die Rasierklinge, das Messer, ohne nennenswerten Widerstand durch die Haut gedrungen war, dort, wo zwischen weißen Rändern Blut hervorsickerte. Dort, wo die Zigarette zischend hässliche Löcher ins Fleisch brannte. Dort, wo der Schmerz war. Dort, wo das war, was noch lebte. Dort, wo Carolin sich noch spürte, wenn sie nichts mehr spürte. Nicht sich, nicht das Leben, nur den Schmerz. Wo statt Leere wenigstens Leiden war.
Neben sich stehen, man sagt das so. Carolin sagt das selten jemandem. Sie steht da nur. Neben sich. Neben dem Fleisch Carolin steht ihre verworrene, zerrissene, wunderliche Seele, die nicht weiß, was anfangen mit der Welt und mit dem Fleisch namens Carolin. Seelentransplantation. Man müsste das Ding einfach herausnehmen können wie ein kaputtes Hüftgelenk. Raus mit dem deformierten Organ, die Erinnerungen, von denen keiner weiß, gleich mit. Und was Neues rein, mit Gefühlen, mit Liebe, mit dem ganz normalen, banalen, gewöhnlichen Leben.
Die Grenze. Kontrollposten.
Anne ist Psychologin, hat nach ihrem Studium ein paar Monate in einer Suchtklinik gearbeitet. Heute fährt sie jeden Morgen zu viele Kilometer über Land und betreut in einer Klinik für Psychosomatik Menschen mit Problemen wie Bulimie, Anorexie, Angst. Seit ein paar Tagen, sagt sie, weiß sie wieder, warum sie damals nicht Medizin studiert hat. Da muss man hart sein, Blut und andere schlimme Dinge sehen können. Vor ein paar Tagen hat sich eine Patientin aus Annes Gruppe beide Arme aufgeschnitten. Nicht die Pulsadern, nein, sondern die andere Seite. Immer quer rüber, von den Handgelenken bis zu den Schultern. Als die Arme bandagiert waren und die Beruhigungsmittel nachließen, hat sie am Hals weiter gemacht. "Borderline", sagt Anne, und es klingt schon ziemlich abgeklärt. Was genau in Borderlinern vorgeht, weiß sie auch nicht. Das weiß niemand so genau. Anne kennt nur die Symptome. Depressionen, Ängste, Realitätsverlust, Depersonalisierung, Identitätsdiffusion. Bindungsunfähigkeit, oft verbunden mit übertriebener Promiskuität. Autoaggression, Gefühlsstörungen, innere Leere, starke Emotionsschwankungen, suizidale Tendenzen und noch ein paar andere. Die müssen nicht alle auftreten. Fünf davon reichen, um die Diagnose "Borderline-Syndrom" zu stellen.
Der Begriff "Borderline-Syndrom" ist ein aus der Psychoanalyse stammendes theoretisches Konstrukt. Psychische Auffälligkeiten, die auf der Grenze zwischen Neurose und Psychose lagen, mit denen man nicht so recht wusste wohin, waren "Borderline". Die Begrifflichkeiten haben sich ein wenig verschoben, heute ist Borderline eine definierte Persönlichkeitsstörung – und mittlerweile eine der verbreitetsten. Frauen sind überproportional betroffen. Borderline ist zum Teil therapierbar – heilbar ist es nicht. Anne weiß das natürlich. Und sie kann nur so behandeln, wie eben behandelt wird: Einzelgespräche, Gruppentherapie, bei schlimmen Schüben Psychopharmaka. Berichte schreiben. Nach ein paar Wochen auf Station geht’s zurück ins "Leben". Manche Patienten kommen wieder, einige bringen sich um, was mit den anderen wird, weiß Anne nicht. Sie kennt das schon aus der Suchtklinik. Anne kennt auch Carolin. Flüchtig. "Borderline", sagt sie, und es klingt wieder ziemlich abgeklärt. Anne hofft, dass Carolin niemals hier auftauchen wird.
Die Grenze. Diesseits. Meistens
Carolin hat die Klinik schon hinter sich. Dort lernte sie damals einen Mann kennen, einen Jungen eigentlich noch. Der ist ein bisschen weiter gekommen, als die Männer, die Carolin heute zu erobern versuchen. Die Wand aus Gummi war plötzlich ein bisschen durchlässiger. Der Junge hat sich dann selbst aus dem Leben genommen. Borderline. Die Grenze ist verdammt dünn.
Heute kommt Carolin einigermaßen klar. Die Wunden auf den Armen sind verheilt. Die auf der Seele zum Teil. Zuletzt hat sie eine Ausbildung gemacht, ziemlich stringent, so was ging früher gar nicht. Was das eigentlich soll, wozu das alles gut ist, ist ihr immer noch nicht klar. Und niemand weiß, ob sie weiß, warum sie so ist, wie sie ist. Warum sich ihre Seele manchmal noch windet und aufbäumt und manchmal einfach nur so in der Ecke liegt. Die gängigen Erklärungsversuche für Carolins Probleme sind: schlimme Kindheit, sexueller Missbrauch, Konflikte im Jugendalter, traumatische Erlebnisse. Carolin hatte eine normale Kindheit, soweit man weiß. Normales, kleinbürgerliches Elternhaus, kein Trennungskind. Zu ihren Eltern hat sie ein normal gutes Verhältnis. Wie es scheint. Über außergewöhnliche Konflikte in der Pubertät ist nichts bekannt. Traumata, Missbrauch? Niemand weiß darüber etwas. Außer vielleicht Carolin. Die nicht darüber redet. Nur versucht, zu leben. So gut es eben geht.
Von André Hennig
alle Namen geändert
37 /
2005
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