EM-Rückschau

Das war's

Soll man keine 24 Stunden nach einem verlorenen Finale einen EM-Rückblick schreiben? Nein, lieber noch einmal schlafen und ausweinen. Dann ist der Blick klarer.

Von Markus Kavka

48 Stunden später. Noch immer fühle ich diese Leere, die nach dem Ende solcher Ereignisse stets da ist, und sie ist natürlich noch viel schlimmer, wenn ein Endspiel verloren wurde. Aber auch ohne diesen Umstand ist da immer dieses große Nichts. Drei Wochen lang hatte ich eine riesengroße Entschuldigung dafür, an Fußball nicht interessierte Freunde zu ignorieren, nicht zum Sport zu gehen, einfach nichts zu machen, was meine volle Konzentration auf die EM stören könnte. Mein Motto war wie immer "Alle Spiele, alle Tore". Da haben Zahnarzt, Steuerberater, Automechaniker, Friseur und wie sie alle heißen einfach keine Chance – auch wenn sie ihre Dienstleistungen ausnahmslos zu Tageszeiten anbieten, in denen keine Spiele stattfinden. Egal, denn in diesen drei Wochen herrscht bei mir ein vollkommen anderer Bewusstseinszustand vor, und der duldet keinerlei Beeinträchtigung durch Alltagsquatsch. Ich war eh schon verwirrt genug, als nach der Vorrunde die 18-Uhr-Spiele wegfielen, ganz zu schweigen von den vier komplett spielfreien Tagen. Mehr Störungen meines EM-Biorhythmus´ wären keinesfalls zumutbar gewesen.

So verhält es sich, seit ich denken kann. Was meine Wahrnehmung von Fußball und solch großen Turnieren betrifft, zogen die Jahre spurlos an dieser vorbei. Ich habe immer noch ein Panini-Album (dafür ist man nie zu alt), ich mache immer noch bei möglichst vielen Tippspielen mit und wenn Deutschland spielt, erhöht sich meine Körpertemperatur immer noch um gefühlte 20 Grad. Wenn irgendwie möglich, will ich auch mindestens ein Spiel im Stadion sehen.

Die Entwicklungen, die der Fußball in den letzten 30 Jahren erfahren hat, nehme ich aber trotz meines Traditionsbewusstseins zur Kenntnis. Insofern spielt bei diesem EM-Rückblick auch der Einst-Jetzt-Gedanke eine Rolle.

1. Die EM in sportlicher Hinsicht
Ich handle diesen Teil in der gebotenen Kürze ab. Zum einen bin ich keine Sportzeitung, zum anderen habe ich selbst nicht mitgespielt. Zunächst: Keine Frage, Spanien ist verdient Europameister geworden. Teilweise war es eine echte Offenbarung, dem Team beim Kicken zuzusehen. Keine andere Mannschaft spielte so konstant schönen, erfolgreichen und modernen Fußball. Überhaupt war die EM auf sehr hohem Niveau, wenn man sich noch einmal vergegenwärtigt, was außer den Spaniern die Niederländer, Russen, Portugiesen und ja, in einem Spiel auch die Deutschen in ihren guten Momenten auf den Rasen zauberten. Die vollkommen irren Türken gab es ungefragt noch als wahnwitzige Zugabe. Sehr gefreut habe ich mich auch darüber, dass die Maurermeister endlich abdanken mussten. Die Zeiten, in denen destruktive Gurkentruppen wie Griechenland Europameister oder zynische Ergebnisfußballer wie Italien Weltmeister wurden, sind damit hoffentlich ein für alle Mal vorbei.

2. Die Berichterstattung
Dieses Auge beim ZDF hat mir bis zuletzt Angst gemacht. Erst hab ich gar nicht kapiert, was das soll. Ich dachte, es hätte irgendwas mit diesem ´Mit dem Zweiten sieht man besser´-Slogan zu tun, aber es war ja nur dieses eine Auge, und es war sehr groß und dominant und nicht schön. Wenn Johannes B. Kerner im weiteren Verlauf nicht in jeder Sendung gefühlte einhundert Mal ausgeführt hätte, dass das ZDF live aus der Bregenzer Seebühne sendet und dass in dieser Kulisse im Juli und August ´Tosca´ gespielt wird, würde ich mich heute noch fragen, wer auf so einen Scheiß kommt.

JBK, Kloppo und der Schweizer Schiri verabschiedeten sich mit dieser EM ja auch als Expertentrio. Um Jürgen Klopp tut es mir leid, ich habe ihm stets sehr gerne bei seinen transparenten Erklärungen zugehört. Guter Mann, mit Ahnung, Charme und Humor. Urs Meier werde ich nicht vermissen. Seine Statements machten nur Sinn, wenn es galt, eine strittige Schiedsrichterentscheidung zu bewerten. Aber da zu diesem Zeitpunkt eh schon längst nicht mehr daran zu rütteln war, brauchte man das auch nicht so wirklich. Über Kerner muss man nicht mehr viel sagen. Nicht umsonst gibt es mittlerweile Ausdrücke wie voll-, an- oder rumkernern. Erfreulich fand ich beim ZDF, dass man nach der Vorrunde Poschmann und Wark vom Kommentatorenplatz entfernte und die Sache fortan Béla Réthy überließ, der seit Jahren in meiner Geringste-Übel-Top 5 einen festen Platz hat. Phasenweise verliert er ein bisschen die Übersicht, aber durch seine Erfahrung wetzt er die meisten Scharten aus. Seine Sternstunde hatte er unfreiwillig beim Sendeausfall während des Deutschland-Türkei-Spiels. Da geriet er ins Schwimmen und produzierte dabei unterhaltsame Krachersätze wie diesen: "Wenn sie jetzt einen Mann mit Vollbart sehen, wissen sie, dass sie wieder ein Bild haben". Derweil trabte Metzelder von links nach rechts, herrlich.

Insgesamt fühlte ich mich bei der ARD besser aufgehoben. Tom Bartels war schon zu Premiere-Champions-League-Zeiten mein unangefochtener Lieblingsreporter, vollkommen zu Recht hat er und nicht Steffen Simon das Finale kommentiert. Prima auch, dass Beckmann sich deutlich zurück gezogen hat. Er durfte nur noch einmal in der Vorrunde unangenehm auffallen, als er zum einen seinen Experten Mehmet Scholl ständig unterbrach, zum anderen nicht davon ablassen konnte, schmierige Bemerkungen hinsichtlich Monica Lierhaus´ Äußerem zu machen. Finster.

Delling und Netzer schaukelten die Sache gewohnt souverän. Natürlich kennt man das inzwischen, dennoch war ihr reduziertes Miteinander in einem schlichten Studio ein erfrischend sachlicher Gegenentwurf zu dem Alarm-Heckmeck, den das ZDF aus der beknackten Seebühnen-Arena abfeuerte.

3. Die Fankultur
An die Deutschland-Fähnchen an den Autos habe ich mich während der WM 2006 gewöhnt. Stören mich nicht großartig, es sei denn, mir kommt auf der Autobahn bei 150 Sachen ein herrenloses Exemplar entgegen geflogen. Ich persönlich besitze keine schwarz-rot-goldenen Irokesenperücken, Hula-Kettchen oder Cowboyhüte, ich hab noch nicht mal ein Deutschland-Trikot, aber wenn man jeglichen nationalistischen Unsinn außen vor lässt und das Ganze als unbeladenen Zugehörigkeitsnippes begreift, geht das schon in Ordnung, zumal im Stadion, denn die Spieler wollen ja schließlich erkennen können, in welche Kurve sich nach Spielende laufen sollen.

Ich habe mich mittlerweile auch damit arrangiert, dass sich während einer WM oder EM augenscheinlich plötzlich weitaus mehr Menschen für Fußball zu interessieren scheinen, als dies sonst der Fall ist. Das ist prinzipiell okay, denn Fußball hat immer noch mit so vielen Vorurteilen zu kämpfen. Es ist noch gar nicht so lange her, dass man sich als denkender Mensch permanent dafür rechtfertigen musste, einer derart stumpfen Proletenveranstaltung auf den Leim gegangen zu sein. Insofern bin ich für jeden neuen Verehrer der besten Sportart der Welt dankbar, denn sie hat ihn verdient. Und wenn im Zuge eines Hypes ganz viele Jungs in Fußballvereine eintreten, anstatt weiter irgendwelchen Trendsportarten zu frönen, kommt das dem großen Ganzen bestimmt zugute.

Wenn es nun aber darum geht, wen ich beim Gucken eines Spiels in meiner unmittelbaren Nähe haben will, bin ich da schon nicht mehr ganz so tolerant. Oder anders: Ich verabscheue Public Viewing. Ich habe es bei dieser EM zweimal versucht, einmal freiwillig, einmal zwangsweise, und beide Male habe ich mir das gedacht, was ich mir immer denke, wenn ich beim Public Viewing lande: "Warum muss ausgerechnet ich immer neben so planlosen, lauten und nervigen Arschlöchern stehen?!" Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Dass Fußball nicht mehr nur der reine Sport, sondern längst schon Gegenstand einer ausufernden Eventkultur ist, nehme ich zwar kritisch zur Kenntnis. Dennoch kann ich nachvollziehen, wie es dazu gekommen ist und verkneife mir an dieser Stelle deswegen auch wehmütige Kommentare. Die Entwicklung ist eh nicht mehr aufzuhalten, damit muss man also klar kommen. Nur: Brauchen tu ich persönlich das alles nicht. Deshalb bleibe ich mit Leib und Seele der Private-Viewing-Typ, weil ich es auf den Tod nicht ausstehen kann, wenn ich Fußball mit Menschen gucken muss, die davon nichts verstehen. Da ziehe ich die handverlesene Kleinstgruppe, mit der ich zuhause die Spiele verfolge, vor. Außerdem schmeckt meine selbstgegrillte Bratwurst besser, das Bier ist kälter und anstehen muss ich auch nirgends.

Im Stadion war ich auch. Ich hatte tatsächlich ein Ticket für Deutschland gegen Österreich ergattert. Auch dort herrschte für meinen Geschmack etwas zu viel Remmidemmi, zumindest vorm Spiel. Singen in der Kurve muss sein, aber ständig wurde der wahre Fan dabei gestört. Entweder es lief "Hey Baby" von DJ Ötzi in brachialer Lautstärke (oder, noch kranker, "Viva Colonia", als die deutschen Spieler zum Warmmachen rauskamen), oder man wurde bereits VOR dem Spiel zur La-Ola genötigt oder das EM-Logo musste auf den Zuschauerrängen einmal durchs komplette Stadion weitergereicht werden. Ich kam mir vor wie bei einem obstlergeschwängerten Après-Ski-Hüttenzauber, und zwischendurch musste ich mich echt kneifen, um sicher zu sein, dass hier gleich ein entscheidendes, hochbrisantes Match einer Fußball-Europameisterschaft steigt.

Während des Spiels war dann alles soweit wieder in Ordnung. Es wurde ordentlich gesungen. Meine Top 3:
1. Deutsche Fans: "Fußball ist kein Wintersport, shalalalala…"
2. Deutsche Fans: "Ihr könnt zuhause bleib´n, ihr könnt zuhause bleib´n…"
3. "In Europa kennt euch keine Sau!" Antwort der Österreicher: "In Europa mag euch keine Sau!"
Aufgrund der Seilschaften und Irrwege, die das Ticket zu mir gelangen ließen, konnte ich allerdings selbst nicht mitsingen, denn ich saß im österreichischen Block. Was spätestens sonnenklar war, als ich bei Ballacks Tor als Einziger in Umkreis von 50 Metern stand und jubelte. Gestanden wurde im Stadion eh nicht, aber das ist eine Entwicklung, an der der konsequente Abbau von reinen Stehplätzen in Fußballstadien gewiss nicht unschuldig ist. Ich stehe gerne beim Fußball. Das mache ich auch die meiste Zeit, wenn ich zuhause gucke. Da hat man eine ganz andere Körperspannung und muss beim Jubeln und Ärgern nicht extra aufspringen. Nach dem Spiel wurde dann bis in die frühen Morgenstunden gefeiert, Österreicher mit Deutschen, fürwahr ein schöner Abend.

Es war also wieder mal alles drin und alles dran bei dieser EM. Sie hat mir genau so viel Freud, Leid, Spaß und Ärger wie alle anderen vorher bereitet. Alles kommt, alles geht, nur der Fußball bleibt.

28 / 2008
ZEIT online