Jugendarbeit

In the Ghetto

Eine Gruppe gestrauchelter Kids arbeitet jeden Sommer im ehemaligen KZ Theresienstadt. Dabei lernen sie, Respekt zu haben und zu ihren Schwächen zu stehen.

Till Hilmar hat sie begleitet

Robert darf nicht mitsägen. Er ist dieses Jahr zum ersten Mal hier –auf Probe. Darum schwingt er wie besessen die Machete. Die anderen fällen mit Motorsägen Bäume und Sträucher, welche die jahrhundertealten Mauern der Festung Theresienstadt gefährden. Theresienstadt ist ein ehemaliges Getto und Gestapogefängnis im heutigen Tschechien.

Jedes Jahr im Sommer kommt eine Gruppe gestrauchelter Kids aus Deutschland hierher. Ziel des Ausfluges: Die Bäume müssen verschwinden und die Jugendlichen sollen etwas über den Faschismus lernen.

Auf dem Putenhof im Wendland leben junge Menschen bis Anfang 20, die aus unterschiedlichen Gründen nicht bei ihrer Familie aufwachsen können. Seien es zerworfene Familienverhältnisse, psychische Probleme oder durchlebte Suchtphasen. Jeder und jede von ihnen hat ein spezifisches Problem.

Zuhause arbeiten sie gemeinsam auf dem Bauernhof, nebenbei gehen die meisten einer Ausbildung nach. Hier arbeiten sie im Auftrag der Gedenkstätte Terezín, wohnen und essen umsonst. Drei Wochen Abenteuer also.

Robert lebt schon zwei Jahre auf dem Putenhof. Die Frage nach dem Warum beantwortet er mit einem Grinsen und hackt weiter. Hastig, aber nicht ohne Stolz, erzählt er Ausschnitte: Wie er einen BMW Z3 im See versenkt, wie er einen vollgepackten Coca Cola-Laster gestohlen hat.

Als Robert 13 war, nannten sie ihn „Ratte“. Kontakt zu den Jungs von damals hat er heute nicht mehr, und das findet er auch gut so: „Dass ich hier bin, ist ein Zeichen. Ab jetzt wird es besser.“

Theresienstadt besteht aus zwei Teilen. In der Festungsstadt, dem ehemaligen jüdischen Ghetto, arbeitet die Gruppe. Jeden Morgen gegen sieben gondelt ihr Jeep durch die Kleinstadt rauf zur Festungsmauer. In diesem Getto sind mehrere zehntausend Menschen unter unerträglichen Bedingungen gestorben, etliche wurden von hier in Vernichtungslager weiterdeportiert.

Im anderen Teil, der Kleinen Festung, die zwischen 1940 und 1945 Gestapogefängnis für politische Gegner der Nazis war, haben die Jugendlichen ihr Quartier. Sie wohnen in den ehemaligen Blöcken der SS, gleich daneben befindet sich der Swimmingpool, den die Häftlinge für ihre Bewacher bauen mussten.

Die Arbeit geht gut voran, und die Kids sind stolz drauf. Zwar gibt es alle 20 Minuten eine Zigarettenpause, aber sie kommen auf ihre Stunden. Für zwei von ihnen sind das Sozialstunden, Robert wird danach noch einen Teil seiner Strafe absitzen müssen.

Und nicht alle sind dabei: Lisa, das Mädchen mit dem gesenkten Blick, bleibt seit einigen Tagen im Bett und nimmt Tabletten. Sie ist depressiv. Auch andere sind auf Medikamenten, auch wenn man es ihnen zuerst überhaupt nicht anmerkt.

Der Sozialarbeiter heißt Jürgen, manchmal nennen sie ihn scherzhaft Papa. Er ist nicht mehr der Jüngste, und kommt eigentlich aus dem Bergbau. Die Kids haben unglaublichen Respekt vor ihm. In ihren rauen Umgangston kann er einsteigen.

Pause auf den Baumstämmen. Jürgen spricht darüber, dass viele Leute versuchten, sich auf Kosten anderer zu profilieren. Indirekt meint er damit wohl auch Robert. Dann sagt Jürgen, sich mit dem Faschismus auseinanderzusetzen hieße, etwas über Demütigung zu lernen. Auch deswegen sind sie hier: Um zu lernen, was es heißt, andere zu demütigen. Was es heißt, gedemütigt zu werden.

Zu oft haben die Kids erfahren müssen, dass niemand ihnen etwas zutraut. Ihre offensive Art wurde ihnen zum Verhängnis, weil sie dadurch umso mehr abgestempelt werden. Sie sollen hier stark gemacht werden, um Schwäche zeigen zu können. Nur wer Schwäche zulässt, kann sich ehrlich auf die Geschichte dieses Konzentrationslagers einlassen. Das dafür notwendige Vertrauen zueinander finden die Jugendlichen durch die lange Zeit, die sie miteinander verbringen. Und durch die gemeinsame harte Arbeit.

Die meisten von ihnen wissen nicht viel über den Nationalsozialismus. Bei der Geschichte von KZ-Häftlingen, die sich gegenseitig steinigen mussten, hören sie genau hin. Der systematische Sadismus der Aufseher geht unter die Haut. Wer jeden Morgen mit der Motorsäge denselben Weg zum Hinrichtungsplatz geht wie einst die Häftlinge, erfährt die Geschichte eindringlicher als aus Schulbüchern. Wer beim üppigen Mittagstisch in Theresienstadt an das einstige Lagerleben denkt, der registriert etwas.

Abends ist das Gestapogefängnis still und menschenleer. Nachdem sich die letzten Besucherströme durch die Einzelzellen, Verwaltungszimmer und Höfe gezwängt haben, bleiben die Jugendlichen allein zurück. Sie werten den Tag im Gespräch aus. Auf die kurzen Geschichten, die Jürgen tagsüber erzählt, zum Beispiel im Krematorium, zeigen sie Reaktionen.

Einer hat heute zum Beispiel ein Lied von den Böhsen Onkelz vom MP3-Player gelöscht. Nicht wegen Jürgen, dazu haben ihn die anderen gebracht. Letztes Jahr wollte er demonstrativ nicht mit ins Museum kommen, diesmal war er dabei. Ein anderer, der erst 16 Jahre alt ist, kann heute schon selbst Führungen durch das Gestapogefängnis leiten.

Einen ganzen Wald haben sie abgeholzt. Die Gedenkstättenleitung sitzt mit den Kids im Holzfällerhemd zusammen, dankbar für die getane Arbeit. Es gibt viel Fleisch und alkoholfreies Bier. „Wer weiß, was er kann, hat keinen Grund, sich an anderen auszulassen“, sagt Jürgen. Die Kids wissen, was sie hier geleistet haben. Und manchen geht auf, dass sie für die Art ihres Zusammenlebens selbst verantwortlich sind.

Die Namen der Jugendlichen wurden geändert

35 / 2008
ZEIT ONLINE