Fotografie

Starren ist menschlich

Kevin Connolly wurde ohne Beine geboren. Ein Jahr lang hat er Menschen fotografiert, die ihn anstarren

Ein Interview von Natascha Heinrich

Zuender: Herr Connolly, Sie haben ein Jahr lang Menschen fotografiert, die auf Sie hinunterstarren, wenn sie auf Ihrem Skateboard vorbei fahren. Warum? 

Kevin Connolly: Sicher nicht, weil ich der Welt erzählen wollte, dass ich keine Beine habe. Ich wollte meine Biographie so weit wie möglich aus der Arbeit heraushalten, weil sie für das Konzept nicht wichtig ist: Die Tatsache, dass ich Kevin Connolly aus Helena in Montana bin, ist den Menschen auf diesen Bildern gleich, sie interessiert nur, dass ich keine Beine habe und auf einem Skateboard fahre.

Galerie: The Rolling Exhibition. Fotos von Kevin Conolly

Galerie: The Rolling Exhibition. Fotos von Kevin Conolly

Zuender: Warum haben sie die Bilder dann gemacht?

Kevin Connolly: Die eigentliche Aussage hinter den Bildern ist für mich die, dass Starren einfach eine Seite der menschlichen Natur ist. Es ist die normale Reaktion auf etwas Spannendes, ein Ausdruck von Neugier und als solcher zunächst weder positiv noch negativ. Das Starren ist universell, ein roter Faden, der sich durch alle kulturellen, wirtschaftlichen und geographischen Gebiete zieht.

Zuender: In der Tat: Auf ihren Fotos sieht man starrende Menschen aus allen Altersgruppen, Männern wie Frauen, Briten wie Rumänen.

Kevin Connolly: Ich habe versucht, Frauen, Männer und Kinder, verschiedene Länder und innerhalb der Länder die Städter und die Landbewohner gleich darzustellen. Die Bilder sind auch alle nach dem gleichen einfachen Muster benannt: sie heißen "Mann, Kroatien" oder "Mädchen, Tunesien". Damit will ich darauf hindeuten, dass die normalen Spielregeln in diesem Moment nicht gelten: Im Augenblick der Neugier sind alle gleich, die Frau genau wie der Mann oder das Kind wie sein Elternteil.

Zuender: Sie sind viel in der Welt unterwegs gewesen und werden also überall und von allen angestarrt. Gab es auch Unterschiede darin, wie die Menschen in verschiedenen Ländern auf sie reagierten?

Kevin Connolly: Ja, je nachdem in welchem Land oder in welcher Kultur ich mich befinde, deuten die Menschen das, was sie als Verletzung oder Behinderung betrachten, unterschiedlich. In Sarajewo hat man mich für ein Opfer des Balkankriegs gehalten. Hier in den USA gehen die Menschen eher davon aus, dass ich ein Veteran des Irakkriegs bin, in Neuseeland glauben sie, ich sei Opfer eines Hai-Angriffs.

Solche Geschichten zu konstruieren, ist ebenso normal wie das Starren. Wenn Menschen etwas sehen, das anders und überraschend ist, versuchen sie, es mit einer Geschichte zu erklären. Für mich ist das sehr interessant, weil ich über diese Geschichten viel über das Leben und das kulturelle Umfeld der Menschen lerne.

Zuender: Wollen Sie mit Ihren Bildern auch provozieren?

Kevin Connolly: Ich denke, Kunst zu machen, nur um die Betrachter zu provozieren oder zu ärgern, führt zu plakativer Kunst, die sich am Ende nicht hält. Deswegen war es nie mein Anliegen, einfach Unruhe zu stiften.

Zuender: Viele Menschen gehen heute bereitwillig in Talk- und Reality-Shows, um ein wenig Aufmerksamkeit zu erhaschen. Sie bekommen dagegen ständig Aufmerksamkeit. Gibt es Augenblicke, in denen Sie das genießen?

Kevin Connolly: Es gibt Augenblicke, in denen ich die Aufmerksamkeit ausnutze, wie zum Beispiel für dieses Fotoprojekt. Aber ich bin ohne Beine geboren und wurde mein ganzes Leben angestarrt. Ich habe das nie als gut oder schlecht empfunden. Es ist einfach so.

Zuender: Zum Schluss: Wie würden sie sich wünschen, dass die Menschen auf Sie reagieren?

Kevin Connolly: Es gibt keine ideale Reaktion. Eine Reaktion lässt sich ja nicht beeinflussen. Es ist ein menschlicher Reflex auf etwas Interessantes. Es gibt keinen Grund, sich dafür zu schämen.

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26 / 2008
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