Abschied

Spinat mit Ketchup

Da hatte Ben stumm nach einem spitzen Messer gegriffen, und sich mit einer geschickten Bewegung das oberste Glied seines linken Ringfingers abgetrennt.

Der Sonntagstext von Mara Braun

"Sie spielen unser Lied!" "Ich weiß." Keiner sah den anderen an, während sie sprachen. Annas Worte hatten die Stille für einen Moment durchbrochen, doch nun war sie wieder da, ‚hello silence‘, voller Trost, schuf die Distanz, die er brauchte. Wenn er nur wenigstens kalt wäre, eindeutig. Wenn er sie von sich stoßen würde, mit aller Macht.

Er liebte sie noch immer, das wusste Anna. Deswegen war sie bisher bei ihm geblieben. Und deswegen würde sie auch jetzt nicht von seiner Seite weichen. Sie tastete im Dunkeln nach seiner Hand; kalt. Er löste sich wortlos von ihr und verschwand in die Nacht.

"Es gibt Spinat."
"Könnte ich das Ketchup bekommen?"
"Spinat mit Ketchup?"
"Warum nicht?"
"Weil das Ketchup den Geschmack des Spinats übertönt."
"Vielleicht gerade darum."
"Du hast mir nie gesagt, dass du keinen Spinat magst."
"Ich habe kein Problem mit Spinat."
"Dann brauchst du auch kein Ketchup."

Die Enge des Zimmers erdrückte ihn. Früher war es ihm vorgekommen, als habe er mehr Platz, obgleich ihm einleuchtete, es konnte nicht sein. Er überlegte sich, ob er das zweite Bett raus stellen sollte. Er könnte es auch zu einer Art Couch umfunktionieren. Oder mit seinem zusammenschieben, vielleicht eine neue Matratze kaufen, eine große. Dann hätten Anna und er mehr Platz, wenn sie bei ihm übernachtete. Andererseits schliefen sie ja doch meistens bei ihr und ohnehin wusste er, er würde es nie tun. Er würde es nicht anrühren. Es sollte genau da stehen bleiben, wo es war; und am Liebsten wäre ihm, niemand würde sich je darauf setzen.

"Hallo Anna."
"Hallo Ben."
" ... "
"Wirst du auch etwas sagen, oder werden wir uns nur wieder stundenlang am Hörer festhalten, die Leitung blockieren, einander atmen hören und nicht in der Lage sein, irgendetwas zu ändern?"
"Es ist heute acht Wochen her, Anna."
"Das weiß ich, Ben."
"Auf den Tag genau."
"Ich weiß doch...."
"Tut mir Leid wegen gestern."
"Schon o.k.!"
"Und wegen heute auch."

Draußen schien die Sonne, aber er hatte die Rollläden heruntergelassen, so konnte er das Licht ignorieren. Heute Morgen, als er aufgewacht war, hatte sich sein Herz leicht, fast unbeschwert angefühlt. Doch nachdem er sich auf das tote Gesicht konzentriert hatte, war seine Schwermut zurückgekehrt. Er musste leiden, es war seine verdammte Pflicht. Beim Frühstück, das sie entgegen ihrer Gewohnheiten gemeinsam eingenommen hatten, war seiner kleinen Schwester ein lustiger Traum in den Sinn gekommen, den sie gleich zum Besten gegeben hatte. Um den Mund seiner Mutter hatte sich der Anflug eines Lächelns abgebildet, sein Vater hatte gar gekichert.

Da hatte Ben stumm nach einem spitzen Messer gegriffen, und sich mit einer geschickten Bewegung das oberste Glied seines linken Ringfingers abgetrennt. Das Blut war aus den Gesichtern seiner Eltern gewichen, so schnell wie es aus seinem Finger quoll und spritzte. Seine Schwester schrie, das Blut floss. Ben verspürte Erleichterung.

"Warum haben sie das getan?"
"Ich brauche es nicht mehr."
"Nun, ich brauche meine Nase auch nicht. Ich kann schon seit Jahren keine Gerüche mehr erkennen. Trotzdem schneide ich sie mir nicht ab, sie verstehen, wie ich meine?!
"Nein."
"Gibt es noch mehr Körperteile, von denen sie in nächster Zeit vorhaben sich zu trennen?"
"Ich denke nicht, aber das entscheide ich spontan."

Mit dem Rücken fest in die Matratze gepresst und dem Gesicht zur Wand erlebte Ben die Wirkung der Droge. Die lachsfarbene Tapete bekam rötliche Flecken, die sich schnell, doch zittrig ausbreiteten, aus der Wand hinaus liefen und über ihn hinweg. Die Farbe floss ihm in die Ohren und in den Mund, durchzog schlierenartig sein Gehirn und hinterließ auf seiner Zunge den süßlichen Geschmack frischer Fäule.

Der verstümmelte Finger füllte sich mit immer mehr Blut, schwoll an und wurde lang und dick wie ein aufgeblasenes Kondom. Die Augen der Katze, die ihn aus der Dunkelheit anstarrten, wirkten bedrohlich. Ihr Atem stank nach frischem Fisch und erinnerte Ben an Anna, manchmal. Er stach der Katze die Augen aus und ihre Tränenflüssigkeit mischte sich mit seiner Kotze und dem rot aus seinem erneut blutenden Finger.

"Ich kann dich nicht aufhalten, habe ich recht?"
"Ja."
"Wirst du mich mitnehmen?"
"Nein."
"Es war nicht deine Schuld, weißt du?"
"Anna..."
"Als wir glücklich waren, hast Du mich da geliebt?"
"Manchmal."

Er ging und sie wusste, es war für immer. Sie würde es seinen Eltern sagen müssen. Aber noch nicht heute und auch nicht morgen. Es hatte Zeit, sie hatte... Und vor Freitag würden sie ihn ohnehin nicht vermissen.

"Du bist lange nicht mehr hier gewesen."
"Und nach heute, werde ich nie mehr kommen."
"Er lebte in der Vergangenheit, Anna. Niemand konnte ihn da raus holen. Er hat bis zum Schluss das Bett keinen Millimeter von der Stelle bewegt. Auch Timos Spielsachen liegen bis heute darauf."
" ... "
"Wusstest Du, dass er Spinat mit Ketchup mochte?"

Anna trat aus dem Haus, das ihr vorgekommen war wie ein Krematorium; nur, dass seine Toten noch lebten und seine Lebenden längst tot waren.  Die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten die Vorgärten der biederen Häusersiedlung in ein Licht, das einen falschen Frieden vorgaukeln wollte. Vielleicht gab es dort Frieden, wo Ben jetzt war. Und vielleicht gab es auch dort Frieden, wohin sie unterwegs war, auch wenn sie nicht wusste, was ihr Ziel sein würde. Ihm folgen auf seiner Flucht vor der Vergangenheit würde sie nicht.

Sie wollte der Zukunft begegnen, und sei es auch nur, um ihr ins Gesicht zu spucken.

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14 / 2008
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