Essen / Nicht-Essen

Alles muss raus

Essen für eine ganze Familie in 20 Minuten verdrücken und wieder auskotzen? Kein Problem.

Von Bernhard Wappis, 30

Verdammt, es ist schon 16 Uhr – nur noch eine halbe Stunde bis Büroschluss! Und ich muss bis morgen noch ein Marketingkonzept fertig stellen. Das schaff ich nie. Wie auch, kreist doch die ganze Zeit in meinem Kopf alles darum, wie ich jetzt am besten etwas zu Essen bekomme. Ich sitze da und grüble, doch marketingmäßig fällt mir überhaupt nichts mehr ein. Einige Minuten sitze ich noch so da, aber es geht nicht mehr. Ich muss endlich was verschlingen.

Ich setze mich in mein Auto und fahre zum nächsten Supermarkt. Pizza, Marmelade, Müsli, diverse Sorten Wurst, Käse, Semmeln, Brot, Cola, Kartoffelchips, Streichkäse, Nutella, Milch, Kuchen, Schokolade, Eis, Joghurt, Fertignudeln, Tütensuppen und so weiter und so weiter. Ich gehe zur Kasse: „50 Euro, junger Mann. Sie sind aber ganz ein netter. Kaufen’s für die ganze Familie ein? Da wird sich Ihre Mutter aber freuen!“ Pah, wenn die wüsste, denke ich mir. Ich höre der Kassiererin gar nicht mehr zu, sondern bin mit meinen Gedanken schon beim Fressen.

Noch schnell durch die Stadt. Ampeln auf rot, vor mir ein Stau. Scheiße, das dauert alles so lange! Nach über einer Stunde komme ich völlig geschafft in meiner Wohnung an. Ich knalle die Tür hinter mir zu und los geht’s. Die Einkaufstüte auf den Boden gestellt, Lebensmittel raus. Pizza in den Mikro-Grill. Ich greife mir das erste Brot, das ich finde. Butter, Wurst und Käse, Gurken drauf und rein damit.

Das erste Brot schmeckt mir noch, und eigentlich bin ich satt, doch ich kann nicht aufhören. Weiter geht’s – Nutella aus dem Glas, esslöffelweise. Ein zweites und drittes Wurstbrot, Joghurt, Müsli mit Joghurt und Milch, vier Stück Käsesahnetorte, schnell mal einen Schluck Cola und Mineralwasser, damit das Zeug dann auch wieder „rausflutscht“, Wurst und Käse ohne Brot, dann noch ein Joghurt. Die Pizza ist auch schon fertig.

Nach etwa 20 Minuten ist der ganze Spuk vorbei. So ein Mist, was habe ich getan? Alle Tüten, Packungen, Folien verstreut in der ganzen Wohnung. Es sieht aus wie auf einem Schlachtfeld. Was ist passiert? War ich das? Hab ich das alles gefressen? Schlechtes Gewissen übermannt mich: Schau dich an, du fette Sau. Das hast du alles gefressen. Spürst du nicht, wie du von Minute zu Minute fetter wirst? Wart erst ab, wenn du das alles verdaut hast, du Fettsack, du Stück Nichts, du elendiger Versager.

Nein, ich kann nicht mehr. Aufs Klo und raus damit. Schnell noch einen großen Schluck Wasser, damit es besser geht, damit ja nichts verdaut wird, und dann Finger rein – ein Mal, zwei Mal, drei Mal, vier Mal. Die Galle kommt hoch. Wahnsinn, tut das gut. Diese Befreiung, dieses Glücksgefühl. Ich weiß: Ich habe es geschafft! Wieder mal. In diesem Moment bin ich der glücklichste Mensch auf Erden. Bauch und Kopf sind völlig leer.

Die Adern im Gesicht sind noch geschwollen und die Augen rot. Die Speiseröhre schmerzt. Hoffentlich kein Riss. Ich wasche mir mit eiskaltem Wasser das Gesicht. Wie gut, dass ich jetzt nicht mehr vor die Tür gehen muss. Niemand soll mir das Kotzen vom Gesicht ablesen können. Es ist wieder mal vorbei und ich gehe zum Alltag über, als wäre nichts gewesen.

Dieses Ritual habe ich an dem Abend noch zwei Mal wiederholt. An „Spitzentagen“ tat ich das bis zu fünf Mal. Gegen 1 Uhr ging ich müde und marketingmäßig völlig unvorbereitet zu Bett und schlief ausnahmsweise sofort ein.

Auszug aus Bernhard Wappis' Buch Darüber spricht man(n) nicht! Magersucht und Bulimie bei Männern. Books on Demand 2005. EUR 18,90

Essen oder nicht essen? Sechs Menschen berichten über den täglichen Kampf mit ihrem liebsten Feind. Hier geht es zur Übersichtsseite

52 / 2006
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