Früher schmuddelig und links, heute nur noch schmuddelig: Die St.Pauli-Nachrichten waren mal politisch. Als es die Beatles noch gab
Von Stefan Kesselhut
Ein Farbfoto, nur ein paar Monate alt. Es zeigt einen unauffälligen Bürobau irgendwo in Hamburg. Hier werden die
St. Pauli Nachrichten
gemacht. Das „Lustblatt Nr. 1“ serviert Sex-Tipps und viel nacktes Fleisch. Sehr viel nacktes Fleisch. Die Schlagzeilen rufen „Komm so oft du willst! Das Ständer-Training! “ oder „Glitschig ist geil – das lieben die Girls“.
Kaum auszumalen, dass hier einmal Mediengeschichte geschrieben wurde. Aber das ist lange her.
Wir spulen zurück: Ende der sechziger Jahre begleitete
Spiegel
-Fotograf
Günter Zint
den damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger nach London, wo ihm eine Zeitung namens
London Gleaner
in die Hände fiel. Das Blatt enthielt Tipps für Touristen, außerdem konnte jeder Leser bei der Redaktion eine persönliche Ausgabe mit selbst getexteter Schlagzeile kaufen. Einige Monate später brach sich Günter Zint die Kniescheibe und lag für mehrere Wochen im Hamburger Hafenkrankenhaus. Dort reifte die Idee, dass es so etwas wie den
London Gleaner
auch für Hamburg geben könnte. Für St. Pauli,
Reeperbahn
und
Herbertstraße
.
Zint machte sich ans Werk. Die nötige technische Ausstattung – eine Handpresse – besorgte sein Freund Helmut Rosenberg, der auf dem Kiez Trödel und Antiquitäten verkaufte. Zusammen mit ihren Ehefrauen gründeten sie im Frühjahr 1968 den „St. Pauli Nachrichten-Verein“, mit 500 Mark Einlage pro Mitglied und klaren Absichten: „Er macht sich zur Aufgabe, Werbeträger für St. Pauli und Umgebung zu werden“, so das Gründungsprotokoll. Zint und Rosenberg zogen los, brachten 10.000 vierseitige Spaßzeitungen mit ein paar Nacktfotos zu je 10 Pfennig unter die Touristen. „Um ein bisschen seriös zu wirken, haben wir im Titel einfach die Schrift des
Hamburger Abendblatts
verwendet“. Ganz wie beim Vorbild aus London war für 1,50 Mark auch eine personalisierte Ausgabe im Angebot: „Kuddel Schmidt nackt im Bordell erwischt“ oder „Erwin Meyer kauft alle Hamburger Werften“.
Geld brachte das Kiezblatt zunächst nicht ein, dennoch stieg die Auflage der zweiten Ausgabe auf 15.000 Stück. Als eine Plattenfirma eine Anzeige schalten wollte, professionalisierten Zint und Rosenberg die Zeitschrift. Die
Nachrichten
sollten in ganz Hamburg erhältlich sein. Dazu bauten sie eine Redaktion auf. Mit Erfolg: Im Oktober 1969 wurde das Blatt 200.000 mal verkauft.
Anzeige
Der Erfolg hatte eine Überschrift. In der Rubrik „Seid nett aufeinander“ fingierten Zint und Kollegen zunächst zum Spaß Kontaktanzeigen. Als aber auf die Scheininserate echte Kontaktwünsche eingingen, beschlossen sie, einen regelmäßigen Heiratsmarkt mit Leserinseraten zu veröffentlichen. Darauf wurden nicht nur einsame Herzen aufmerksam. Durch zwei Aktionen der Hamburger Polizei wurde die Zeitschrift bundesweit bekannt: Am 9. Oktober 1969 durchsuchten Beamte die Büros und konfiszierten 91 Exemplare der
Nachrichten
. Strafrechtlich relevantes haben sie nicht gefunden, nach einigen Tagen wurden die Hefte wieder an die Redaktion übergeben – nur eines fehlte. Drei Wochen später wurden die Gesetzeshüter doch fündig und beschlagnahmten die Kartei der Heiratsmarkt-Inserenten. Die Anzeigen wurden verdächtigt, „unzüchtigen Verkehr herbeizuführen“. Kein Wunder, die Inserate hätten kaum eindeutiger sein können.