Interview

"Maulfaul und emotionslos"

Der Regisseur Aki Kaurismäki hat mehr als 15 Filme über die Finnen gedreht. Das Ergebnis: Sie brauchen noch eine Weile, bis sie Gefühle zeigen können. Spätestens bis 2380. Ein Interview

Fragen von Carolin Ströbele und Bettina Hensel

Herr Kaurismäki, wie würden Sie die Finnen beschreiben?

Aki Kaurismäki: Schauen Sie sich meine letzten 15 Filme an, dann bekommen sie eine leichte Ahnung davon.

Man sieht dort viele schweigsame Männer, die Kette rauchen und zu viel trinken …

Finnische Männer sind einfach schüchtern. Sie können nicht reden und sie haben keine Emotionen. Also müssen sie versuchen, etwas darzustellen.

Warum haben sie keine Emotionen?

Weil es ihnen keiner beigebracht hat. Wir sind eine junge Kultur, wissen Sie. Emotionen bei Männern - das braucht seine Zeit. Im Jahr 2380 werden wir den neuen finnischen Mann sehen.

Wie haben Sie als schweigsamer Finne denn Ihre Frau kennen gelernt?

Sie hat einen großen Fehler gemacht. Sie ging zu einem Rock'n'Roll-Konzert – zum ersten Mal in ihrem Leben. Dort haben wir uns getroffen. Liebe auf den ersten Blick. Mein erster Satz war: „Lass uns heiraten.“ Sie wurde fuchsteufelswild und meinte: „Das kannst du nicht sagen.“ Aber ich sagte: „Ich meine es ernst.“ An der Bushaltestelle bekam ich ihre Telefonnummer. Wir haben geheiratet, ich hatte Recht, sie nicht.

In Ihrer Trilogie der Verlierer geht es um die Themen Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit. Haben Sie diese Erfahrungen selbst gemacht?

Ich war selbst einsam, ich war mehrmals in meiner Jugend arbeitslos und obdachlos. Eine Zeit lang hatte ich zwar Arbeit, aber keine Wohnung. Also lebte ich fünf Monate lang im Garten des Rathauses. Hinter dem fünften Rosenbusch von links hatte ich meinen Schlafsack. Als der Winter kam und es kälter und kälter wurde, ging ich zum Bahnhof, aber die Polizei warf mich hinaus. Aber ich war nie ohne Hoffnung, weil ich jung war und wusste, das ist vorübergehend – und so war es dann auch.

Suchen Sie immer nach Schauspielern mit traurigen Gesichtern?

Ach, Sie sollten die mal außerhalb der Dreharbeiten sehen. Lustige Kerlchen sind das. Ich stelle sie nur ruhig während des Drehens. Aber sobald ich draußen bin, haben sie viel Spaß. Sie brauchen jemanden, der Drama in ihr Leben bringt.

Und das sind Sie?

Ja.

Dabei sagen Sie, Schauspieler dürfen bei Ihnen nicht schauspielern. Was meinen Sie damit?

Sie sollten nicht mit den Händen wedeln, schreien, lachen oder weinen. Wenn sie wirklich wollen, können sie ein bisschen lächeln – das kann ich dann später rausschneiden.

Was macht Ihnen am meisten Spaß beim Filmemachen: das Schreiben, das Drehen, das Schneiden …?

Ich denke, die Musik ist der Part, den ich gerne mag. Sie kann alles ins Gegenteil verwandeln – eine Komödie in eine Tragödie und umgekehrt. Ich habe manchmal 40 Songs für eine Szene, und keiner funktioniert. Und dann ist einer perfekt, aus Gründen, die ich nicht erklären kann.

Welche Musik hören Sie am liebsten?

Tango, Rhythm'n'Blues, Blues

Tanzen Sie auch selbst?

Wenn Sie wüssten … Aber ich tanze nur mit meiner Frau.

Wovon handelt Tango-Musik?

Von Saudade. Das ist ein portugiesisches Wort und kann in keine andere Sprache übersetzt werden. Also fragen Sie mich nicht.

Wie würden Sie es beschreiben?

Sehnsucht. Sehnsucht nach etwas, nach einem anderen Ort. Und gleichzeitig das Wissen, dass es ihn nicht gibt.

Für viele Filmemacher heißt dieser Ort Hollywood. Für Sie nicht?

Schauen Sie sich die Geschichte an. Europäische Filmemacher haben Hollywood erschaffen. Doch jeder, der in den letzten 30 Jahren nach Hollywood gegangen ist, kam nie zurück und man hörte auch nichts mehr von ihnen. Seit 1962 sind nur ungefähr fünf gute Filme entstanden. Fünf Filme in 40 Jahren. Hollywood. Das ist nicht viel.

Haben Sie wegen Ihrer Abneigung gegen Hollywood im Oktober Ihre Oscar-Nominierung für Lichter der Vorstadt zurückgezogen?

Sie werden mich nie in Hollywood sehen. Mit oder ohne Oscar-Zeremonie, ich werde nie meinen Fuß auf kalifornischen Boden setzen, weil ich meinen Fuß niemals auf amerikanischen Boden setzen werde. Und das nur, weil sie dort Nichtraucher-Flüge haben und ich meine DNA niemandem geben will.

Ernsthaft?

Ich werde meine Filme nicht unter dieser Regierung abgeben. Sollten die Demokraten gewinnen, können wir noch mal drüber nachdenken.

Ihre Entscheidung hat ziemlichen Wirbel verursacht.

Ich hasse diese Aufregung. Wenn das finnische Komitee mich vorher gefragt hätte, ob sie Lichter der Vorstadt vorschlagen können, hätte ich gesagt: "Haltet mich da raus und fragt jemand anderen." Aber ich war nicht in Finnland, niemand hat mich angerufen, und dann war es zu spät, den Film eines anderen Regisseurs vorzuschlagen. Die anderen Regisseure mochten mich nicht sehr.

Können Sie sich vorstellen, die ganze Filmerei einfach mal hinzuschmeißen?

Ja, ganz leicht!

Was würden Sie dann machen?

Vor meiner Zeit als Regisseur war ich Arbeiter. Das könnte ich wieder tun. Ich habe immer noch zwei Hände und bin in guter Form. Ich könnte zum Beispiel auf dem Bau arbeiten. Körperliche Arbeit. Ich habe jahrelang Anweisungen gegeben jetzt darf ich nicht mal mehr eine Lampe tragen. Meine Crew sagt zu mir: "Wir machen das. Das ist unser Job. Dein Job ist es zu denken.“ Und ich sage, nein, lasst mich auch ein klein wenig tragen. Aber sie bleiben beim Nein.

Können Sie sich auch mal entspannen?

Entspannung, was ist das? Wenn ich mal die Gelegenheit habe, ja. Aber ich habe ein Hotel, fünf oder sechs Restaurants, einige Billardsäle, Bars, ich organisiere ein Filmfestival und dann auch noch mein Geschäft. Es ist nicht so einfach, alles auf einen Schlag zu vergessen. Es gibt immer irgendwo etwas zu tun.

Und wenn Sie doch mal Zeit haben?

Manchmal gehe ich Fischen oder Pilzesammeln. Außerdem spiele ich seit fünf Jahren wieder Fußball. Der einzige Grund, warum ich mir vorgenommen habe, nächstes Jahr das Rauchen aufzugeben.

Was ist Ihr Lieblingsverein?

Der FC Porto.

Sie leben seit 18 Jahren die Hälfte des Jahres in Portugal. Warum gerade dort?

Warum nicht?

In Spanien und Italien ist es doch auch schön und warm.

Die Leute sind so laut dort. (Pause) Mein Kameramann lebte in Portugal und er fragte mich: „Aki, warst du schon mal in Portugal?“ Und ich sagte: „Nein. Warum fragst du?“ Er antwortete: „Fahr hin, du wirst es mögen.“ Und ich sagte: „Okay, ich werde hinziehen.“ Ich ging nach Hause und sagte zu meiner Frau: „Fang an zu packen.“ Und dann sind wir hingezogen.

Ist es denn ruhig dort, wo Sie in Portugal leben?

Na ja, der Ozean macht ein bisschen Lärm.

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52 / 2006
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