Festival

Wir wollen unruhige Persönlichkeiten

Neue Talente entdecken, dem Puls der Zeit einen Schlag voraus sein - „advanced“ halt. Wie man das macht, erzählt der Co-Direktor des Sónar Festivals, Enric Palau, im Zuender

Aufgezeichnet von Kati Krause

Vor 14 Jahren war Enric Palau noch Sänger. Dann gründete er mit zwei Freunden die Firma Advanced Music, um sich "fortschrittlicher Musik" zu widmen. Sie wollten eine Plattform für Künstler, Publikum und Fachleute - und erschufen das Sónar Festival im Stadtzentrum von Barcelona. Zunächst kamen 6.000 Besucher, im vergangenen Jahr waren es 85.000. Das Line-Up liest sich fast wie eine Grammy-Nominierungsliste: DJ Shadow, Jeff Mills, Rahzel, Richie Hawtin, Miss Kittin - und noch etwa hundert andere. Am Puls der Zeit will man sein. Wie das funktioniert, erzählt Enric Palau:

Unser Stil: Manchmal muss man Kraftwerk hören

Wir wollen entdecken, was in diesem Jahr musikalisch interessant ist. Und wir wollen uns auf Orte und Geschichte beziehen - man kann elektronische Musik nicht verstehen, wenn man die Vergangenheit nicht kennt. Deshalb muss man sich manchmal Kraftwerk oder Chic anhören.

Es geht darum, neue Stile zu suchen. Das Sónar heißt ja nicht ‚Festival für elektronische Musik’ sondern ‚Festival für fortschrittliche Musik’. Musik entwickelt sich weiter durch Technologie, aber die ist auch nur ein Werkzeug, ein Pinsel. Das Wichtigste ist der Charakter des Künstlers. Wir haben uns auch schön oft mit Jazz befasst, oder mit experimentellem Rock.

Dieses Jahr wird’s Reggae, das ist quasi die Fortführung unserer Ausflüge in den Hip Hop. ‚Schwarze Musik’ ist total wichtig. Aber unsere Hip Hop-Acts müssen alle irgendwie was Besonderes haben. Wie De La Soul zum Beispiel, die letztes Jahr ganz überraschend Kanye West mitbrachten. Oder DJ Shadow. Die bauen melodische Verbindungen, Verbindungen mit Dingen, die mit Hip Hop eigentlich überhaupt nichts zu tun haben.

Wir wollen Menschen mit einer unruhigen Persönlichkeit. Künstler, die verschiedene Stile mischen und kreativ sind. Künstler mit einer klaren Linie sind auch gut, als Exempel für einen bestimmten Stil. Jeff Mills zum Beispiel macht einfach sein Ding, aber er ist zweifellos der Beste auf dem Gebiet, es ist sein Meisterwerk. Die Leute erkennen seine Lieder schon nach zwei Beats. Andere hingegen haben als Markenzeichen die Mischung verschiedener Stile, Deep Blow zum Beispiel.

Große Namen: Glücklicher Zufall mit Björk

Unser Schwerpunkt ist die Entdeckung neuer Talente, die noch keine große Anhängerschaft haben. Die Leute schätzen das auch. Wir haben das Vertrauen eines Publikums gewonnen, das zum Sónar kommt, um zu entdecken.

Aber es gibt eben auch Leute, die zum Festival kommen, um ihren Lieblingskünstler zu sehen. Trotzdem gibt es neben diesen Berühmtheiten auch immer weniger bekannte Künstler. Neben Goldfrapp werden dieses Jahr Modeselektor stehen. Das Sónar baut ja nicht auf große Namen.

Es gab ein paar glückliche Zufälle, wo Künstler gerade auf Tour waren und das Sónar mit einbauen konnten, Björk zum Beispiel oder Kraftwerk. Die bringen natürlich ein neues Publikum. Okay, und ich gebe zu, inzwischen ist es leichter geworden, Stars anzulocken … aber die haben ihren Preis.

Wir planen nicht mathematisch, wie viele bekannte und wie viele neue, experimentelle Künstler wir buchen. Das passiert irgendwie intuitiv. Trotzdem muss natürlich alles genau koordiniert werden. Das ist wie ein Musikstück: Ein Festival braucht eine Einleitung, einen Hauptteil und ein Schlussstück. Du musst wissen, auf welcher der drei Bühnen zu welcher Zeit wer stehen soll, alles muss genau komponiert werden. Da kommt mir meine Erfahrung als Songwriter zugute.

Und die Arbeit gibt viel zurück, wenn das Publikum einen neuen Künstler entdeckt. Ein Star bringt mir da nicht so viel. Und jetzt, wo das Publikum mehr Vertrauen in meine Wahl hat, ist das viel einfacher geworden.

Neue Talente: Unser Mann in Brasilien

Wir rekrutieren neue Künstler durch unsere internationalen Festivals, die Sónar-Sound-Ableger in Buenos Aires, Sao Paulo, Seoul… Wir haben auch einen Verantwortlichen in Brasilien, der in ganz Südamerika herumreist und neue Leute entdeckt. Wir versuchen natürlich auch, so viel wie möglich zu reisen. Reisen und Antennen haben. Man muss nur ein bisschen mit den Leuten reden, da findet man schon viel Neues heraus.

Außerdem durchforsten wir immer das Internet und Fachzeitschriften, da bekommt man viel Information. Und dann empfehlen dir auch die Künstler selbst neue Acts, ich such mir die CD, check alles aus, und am Ende holst du den Künstler aufs Festival.

Deutschland: Der Berlin-Effekt

Aus Deutschland kommen dieses Jahr viele bekannte Künstler, Modeselektor, Señor Coconut, Barbara Preisinger, Isolée... Was bei euch echt wichtig war: der Berlin-Effekt. In Berlin habe sich jetzt allerlei internationale Künstler angesiedelt, nicht nur Deutsche. Richie Hawtin, die Liars oder Ricardo Villalobos zum Beispiel, die alle dieses Jahr dabei sein werden. Die sind nicht deutsch, aber Teil der Berliner Szene. Deshalb kommen auch so viele Fans dieser Szene zum Sónar.

Die Zukunft: Sex, Gewalt, Mobiltelefone

Dieses Jahr haben wir eine Ausstellung von Künstlern, die mit Wireless und Mobiltelefonen arbeiten. Das hätten sie vor zehn Jahren nicht machen können. Da mischen sich Technologien, der iPod, das Internet. Da geht’s weiter. Technologie schafft neue Wege für Kreation.

Doch bei Musik ist sie nicht alles. Lateinamerikanische Musik ist unheimlich einflussreich, gerade Musik aus brasilianischen Favelas. Sie nährt sich von diesen tiefen Wurzeln. Technologie ist manchmal bestimmend, sie ändert unser Leben. Aber manchmal ist sie auch nur ein Instrument, und die Wurzeln kommen ganz vom anderen Ende, aus sehr unterentwickelten Gebieten der Welt.

Die brasilianischen Künstler arbeiten auch mit Computern, aber die Texte und ihre Umgebung sprechen ganz ausdrücklich von der harten Realität, von Gewalt, Sex und Drogen. Es ist so ähnlich wie mit dem Hip Hop.

Ich kann dir nicht sagen, was für Musik wir in fünf Jahren hören werden. Aber ich glaube, so etwas wird es sein – ein Ausdruck sozialer Realitäten, erschaffen und verbreitet durch neue Technologien.

04 / 2006
ZEIT ONLINE