Großer Bruder

Überwachungsstaat für alle!

Wie oft verpassen wir unsere Freunde nur um wenige Sekunden oder Meter? Was wissen wir schon von uns, den anderen und dem Schicksal? Das Leben wäre doch viel einfacher, wenn man sich staatliche und privatwirtschaftliche Überwachungsmaßnahmen zu Nutze machen könnte. Eine Lobeshymne auf Abhörwanzen und Satellitenbeschattung

Von Rabea Weihser

Der große Bruder ist überall. In U-Bahnschächten glotzt er mich aus kleinen, an den Wänden montierten Kameras an. Der Sprechstundenhilfe beim Arzt hilft er per Mikrochip auf die Sprünge, und für das große Kaufhaus in der Stadt hat er sich gemerkt, was ich gern einkaufe.

Sobald ich meine Wohnung verlasse und meinem Alltag als rechtschaffene Bürgerin dieser Republik nachgehe, bin ich ein gläserner Mensch. Ich werde von Spionen beschattet, die ich zum Teil sogar selbst in mein Leben ließ. Warum jetzt nicht das Beste draus machen?

Auch ich wäre manchmal gern die große Schwester. Auch ich würde gern aus der Vogelperspektive beobachten, was sich in meinem Viertel so tut. Mit einem erheblichen Unterschied zum großen Bruder: Mich selbst will ich dabei auch observieren. Wie eine Ameise unter Tausenden. Denn damit könnte ich vielleicht dem Schicksal auf die Spur kommen – oder es als bloße Anhäufung von Zufällen entlarven.

Schicksal und Zufall werden im Alltag oft besonders evident durch zwischenmenschliche Begegnungen. Oder das Ausbleiben derselben. Jeder kennt das: Da denke ich gerade – zufällig – an einen Bekannten, den ich lange nicht gesehen habe, und prompt steht er mir an der nächsten Ampel gegenüber. Oder im umgekehrten Fall: Ich gehe Wege, auf denen ich mit größter Wahrscheinlichkeit eine Person treffen müsste, der ich lieber nicht begegnen würde. Und ich bleibe trotz hohem Treffer-Risiko unbehelligt. Da kann man schonmal ins Grübeln geraten und sich in fatalistischen Gedankengebäuden verirren. Sollte das so sein oder ist es einfach passiert?

Dank Überwachungsstaat könnte endlich Licht ins Dunkel kommen. Dazu müssten die staatlich und privatwirtschaftlich gesammelten Daten lediglich für die Allgemeinheit zugänglich gemacht werden. Wenn alle am selben Strang ziehen, lässt sich der große Bruder bestimmt zur Offenlegung der Informationen überreden – schließlich gibt es doch so etwas wie das Recht am eigenen Bild und Ton. Dann könnte die Menschheit bedeutende Fragen der Metaphysik klären und wir alle avancierten zu Schicksalsforschern.

Ein benutzerfreundliches Computerprogramm, verknüpft mit den Späherdatenbanken, würde die Informationen zum Aufentshaltsort jedes Bürgers in einen digitalen Stadtplan übertragen. Mithilfe dieses „Sozial-Navigators“ könnte ich am Ende des Tages am heimischen PC nachvollziehen, wen ich in den vergangenen 24 Stunden um wenige Sekunden oder Meter verpasst habe. Meine Mitmenschen und ich würden als blinkende Punkte in einem Koordinatensystem auftauchen. Im Zeitraffer ließen sich damit auf dem Bildschirm die Wege eines jeden verfolgen.

Der „Sozial-Navigator“ – wie ich ihn mir vorstelle – ist mit zwei grundlegenden Funktionen ausgestattet: „Personen-Fahndung“ und „Blindsuche“.

Mithilfe letzterer wird meine penibel geführte Archivakte durchforstet: Neben meinen privaten Daten sind dort alle Personen vermerkt, deren Wege sich bisher mit meinen gekreuzt haben. Wenn ich nun anhand der „Blindsuche“ herausfinden will, wer sich heute in meiner Nähe aufgehalten hat, wen meiner Bekannten ich potenziell hätte treffen können, muss ich natürlich die Auswahl einschränken. Nicht alle Menschen, mit denen ich irgendwann mal im Fußball-Stadion oder an der Supermarkt-Kasse stand, können mich in diesem Zusammenhang interessieren. Hier kommen weitgreifendere Formen der Spionage ins Spiel: Allerorts, endlich auch in Privaträumen installierte Abhöranlagen ermöglichen, dass nur Personen, mit denen ich zumindest drei Sätze gewechselt habe, in die engere Auswahl kommen. Selbstverständlich kann dieser Bekanntheitsgrad-Filter aber beliebig fein oder grob eingestellt werden.

Die „Personen-Fahndung“ hingegen gewährt mir Einblicke in das Leben bestimmter, namentlich bekannter Personen – die gern, aber selten gesehene Schulkameradin oder den Verkäufer im Plattenladen, für den ich so schwärme. Meine Freundin in Barcelona habe ich auch im Blick, denn der „Sozial-Navigator“ funktioniert dank weltumfassendem Satelliten-Überwachungsnetz auf lokaler wie internationaler Ebene. Wieder werden die Wege der gewünschten Person in einem digitalen Koordinatenkreuz aufgetragen. Interessant wird es natürlich, wenn sich dieses Straßen-Raster dem meinen geografisch annähert. Plötzlich sehe ich dann den anderen und mich als Punkte auf derselben Karte herumwuseln. Kommen sich beide Punkte näher, berühren oder verpassen sich gar, sitzt das Schicksal in der Falle.

So scheint es zumindest. Das Wann, Wie und Wo kann ich mit meinem Sozial-Navigator verfolgen und daraus Erkenntnisse für meinen Alltag ableiten. Wenn ich morgen um 16 Uhr am Bahnhof auf den Zug warte, treffe ich wahrscheinlich meine Schulkameradin. Gehe ich am Samstag in jenen angesagten Club, könnte es sein, dass mein Schwarm plötzlich neben mir an der Theke steht. Zufälle lassen sich mithilfe des „Sozial-Navigators“ also provozieren.

Aber dem Schicksal ist leider nicht beizukommen. Solange nämlich nur die optischen und akustischen Signale der Menschen aufgezeichnet werden, bleibt das so bedeutende Warum – die Gedanken – unergründet. Da müsste schon eine universale Hirnkontrolle her, die alle privat-mentalen Entscheidungen und Geistesblitze dokumentiert. Dann endlich wäre das Leben planbar. Dann würde ich meine Mitmenschen in- und auswendig kennenlernen. Dann endlich wäre mein Dasein frei von Illusionen.

20 / 2006
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