Aussteigen

Elf Monate Freiheit

Auf der „Arche Noah“ segelt Skipper Michiel zwischen März und November Touristen übers Ijsselmeer, hinaus ins Wattenmeer oder über die friesischen Kanäle. Ich, Ruth Helmling, war elf Monate als Matrose dabei

Von Ruth Helmling

Manchmal würde ich am liebsten einfach wieder gehen. Einfach wieder den Rucksack packen und in den Zug steigen, nach Holland, dorthin, wo der Himmel bis zum Boden reicht. In einem Hafenstädtchen würde ich aussteigen und ein Schiff finden, dessen Skipper noch einen Matrosen braucht. Mich.

Elf Monate war ich Maat. Auf einem Schiff in den Niederlanden, 20,5 Meter lang, 21,5 Meter hoch, ein Mast, drei Segel, kein Kiel. Ein Plattboden-Schiff, 60-Tonnen-Stahl von 1892. Zehntausende gab es früher davon, heute sind es noch rund 500. Früher verschifften die platten Segler Holz, Kies oder Mist. Heute verschiffen sie Touristen. Was genau ein Maat auf so einem Schiff macht, wusste ich nicht. Überhaupt wusste ich am Anfang gar nichts, konnte am Schiff gerade vorne und hinten unterscheiden und Niederländisch konnte ich auch nicht.

Vom Kegelclub zur Segelcrew

Freitagabend steht unsere Fracht am Kai von Stavoren. Die Fracht, das sind 16 Touristen und Unmengen an Gepäck. Wie immer erklärt Skipper Michiel geduldig, wie der Strom aufs Schiff kommt und das Wasser aus dem Hahn und wie man die Schiffstoilette leer pumpt. Danach breitet Michiel die Seekarten aus und die Gruppe legt ihr Reiseziel fest. Das letzte Wort behält der Skipper. Oder der Wind.

Am nächsten Morgen: Einweisung ins große Segelganze. Jeder Maat muss sich seine aktuelle Kegel-, Ruder-, Frauen-, Jugend-, Pfadfinder- oder Rentnergruppe erst mal erziehen. Muss erklären, wo man auf keinen Fall seine Finger reinstecken darf, wo man wann ziehen muss und wie man ein Tau richtig festmacht. Mit ein paar Kreidestrichen male ich unser Schiff aufs Deck und die wichtigsten Begriffe daneben. Bis es regnet, müssen das alle wissen.

Wasser ist überall

Regen? Beim Segeln ist das Wasser überall. Da spült sowieso Welle nach Welle über das Vordeck und wir rutschen in Regenhosen, Regenjacke und Gummistiefeln von einer Seite zur anderen, um die Taue zu bedienen. Am grauen Himmel scheucht der Wind Wolkenhügel zu Gebirgen zusammen, nur um sie in tausend Fetzen wieder auseinander zu zerren. Die Taue sind hart wie Stahlseile und sirren vor Spannung. Wasser spritzt in feinen Tröpfchen aus der perfekt getrimmten Rundung der Segel. Das ist das Wetter, wo der Wind einem die Seele davon trägt. So weit das Auge reicht, nur Wasser und Himmel und Himmel und Wasser.

„Wir machen eine Wende“, sagt Michiel und ich klemme meine Kaffeetasse zwischen Kompass und Lukendeckel ein. Meine Gruppe, die sich im Schiffsbauch bei Suppe und Skat ganz ihrem Touristendasein widmet, muss sich kurzfristig wieder in eine Segelcrew verwandeln: Die drei mit Regenanzug dürfen das vorderste Segel von Steuerbord nach Backbord hieven, den Angeber stelle ich zum Schwertkurbeln ab, die mit Durchblick stehen an den Backstagen bereit. Und ich passe auf, dass alles dann passiert, wann es passieren soll.

Einparken mit 60 Tonnen

Die eigentliche Stunde des Maats schlägt beim Anlegen. Ein Schiff kann man nicht einfach abbremsen und anhalten, man muss es mit Tauen an Pfählen und Pollern festzurren. Am Maat hängt es, ob das Anlegen klappt. Ich liebe den Moment, wenn ich das dicke, schwarze Tau sorgfältig in großen Schlaufen über meinen linken Arm lege, die letzten Meter mit der Schlinge wurfbereit in meiner rechten Hand. Ich liebe den Moment, wenn Michiel mir vom Ruder aus zunickt und ich mich darauf konzentrierte, den Pfahl an Land zu treffen. Ich hasse nichts mehr als den Moment, wenn die Schlaufe daneben rutscht.

Wohnloch von drei Quadratmetern

Ein Schiff ist immer zweierlei, Fortbewegungsmittel und Wohnung. Das hintere Ende des Schiffes gehört dem Skipper, in der Mitte wohnen die Touristen. Ich lebe ganz vorne unter einer Luke, im „Vooronder“, das heißt so viel wie „vorne unten“. Ich nenne es Loch. Eine Matratze, die dem Rumpf angepasst nach vorne schmäler wird. Daneben ein winziges Waschbecken und ein viereckiger Spiegel. Mein Rucksack ist mein Schrank: Drei lange Hosen, zwei kurze, drei T-Shirts, zwei Pullis und ein Satz Unterwäsche. Bei schönem Wetter ist das genug, um zufrieden mit sich und der Welt zu sein. Bei schönem Wetter habe ich drei Quadratmeter plus Horizont. Aber wie oft habe ich ruhelos in dem leicht feuchten Halbdunkel auf schönes Wetter gewartet, auf meiner durchgelegenen Matratze, zwischen den schmutzigweiß gestrichenen Planken und beim Geruch alter Taue, muffiger Segel und rostiger Ankerketten. Die Decke hängt so tief, dass sie einem nicht mehr auf den Kopf fallen kann.

Auch im Schiffshintern, Michiels „Achteronder“, ist alles eng, drängen sich Wohn-, Schlaf-, Arbeitszimmer, Küche, Bad und Werkzeugkammer auf zwölf Quadratmetern. Aber mit dem ersten Sonnenstrahl verlegt sich unser Leben nach draußen, vom ersten kopje koffie am Morgen bis zum letzten biertje vorm Schlafengehen spielt sich alles auf den zwanzig Metern Stahldeck zwischen Michiels Achteronder und meinem Vooronder ab. Haben wir mal keine Gäste, verwandelt sich unser Deck in eine Werkstatt. Da müssen Luken lackiert, muss die Reling ausgebessert, die Wasserpumpe repariert, das Deck gestrichen werden. Schmirgeln, Lacken, Streichen, Sägen, Fliesen, Entrosten, Schweißen, Flicken, Fetten - auf einem Schiff gibt es immer etwas zu tun. Ein Skipper ist Segler, Unternehmer, Betreuer, Handwerker, Meteorologe und Physiker in einem. Und der Maat ist sein Gehilfe. Der Maat muss mit allem rechnen, immer.

Und täglich grüßt der Fehlerteufel

Voorkomen is beter dan genezen , sagen die Holländer. Vorbeugen ist besser als heilen. Hundertprozent muss immer alles sein, sonst geht's hundertprozentig schief. Wenn’s nur das Segeln wäre. Aber Michiel perfektioniert seit 33 Jahren alle Lebensbereiche. Er zeigt mir, dass man Käsepackungen richtig und falsch aufschneiden kann. Dass Salatgurken nicht in den Kühlschrank gehören und Kaffeewasser nicht kochen darf, sonst schmeckt er so dünn. Um Himmels Willen, die Pfanne geschrubbt? Jetzt dauert es Jahre, bis die Pfannkuchen wieder was werden. Das Schlimmste daran: Michiel hatte immer Recht.

Als erstes konnte ich wohl fließend holländisch putzen: Teedoek, viesigheid, stofzuiger, prullebak, wastafel, beddengoed, kussenslopen, schoonmaken, poetsen, afvegen, vochtig doekje. Es muss nicht nur sauber sein, es muss auch sauber aussehen. Viesigheid lauert überall: Zwischen den Schläuchen des Gäste-WCs, in den Winkeln hinter dem Wasserhahn, als Härchen auf der Klobrille, als Krümel im Bett. Zwei Stunden bleiben, um die Spuren der einen Gruppe aus allen Ecken zu tilgen, bevor die andere kommt.

Eine Welt für sich

Nach und nach kommen andere Schiffe, legen vor uns, hinter uns an. Manchmal liegen auch acht, zehn Schiffe nebeneinander. Im Hafen ist die Flotte der traditionellen Segler wie ein schaukelndes Dorf mit ständig wechselnden Nachbarn. Ein paar Nachbarskipper und -matrosen kommen auf ein biertje vorbei und wir tauschen die neuesten Geschichten aus. Wir erzählen von unserer Flucht vor der Windhose. Oder von der Mädchengruppe, die so humorlos war, dass wir vor Verzweiflung die Spaghetti mit dem Akkuschrauber aufwickelten. Von Pippi, unserer Schiffskatze, die im tiefsten Inneren vermutlich ein Hund sein möchte. Von der aufregendsten Zeit des Jahres, den Segel-Wettkämpfen zwischen den Plattbodenschiffen. Von unserer Welt irgendwo zwischen früher und heute, zwischen alten Schiffen und modernen Sicherheitsauflagen, zwischen Unternehmer und Pirat, zwischen Wasser und Himmel.

04 / 2006
ZEIT ONLINE