Fussball

Friede den Bruchbuden

Gestern spielte der fast untergegangene FC St. Pauli im DFB-Pokal-Halbfinale gegen Bayern München. Es war auch ein Kampf gegen die Realität.

Von Christian Bangel

Es gibt einen Cartoon, gezeichnet von Comic-Zeichner Guido Schröter: Ein St. Pauli-Fan träumt darin eines Nachts von einem DFB-Pokalfinale der ersten gegen die zweite St. Pauli-Mannschaft. Der Traum erweist sich in der Realität des Cartoons als unumsetzbar, nicht weil die Konstellation nicht möglich wäre, sondern weil’s die St. Pauli-Spieler nicht verstehen: "Wieso? Ich denke, der DFB-Pokal geht nur bis Oktober?" Das beschreibt es in etwa: St. Pauli hat kein Verhältnis zum Pokal. Keine der schönen Erinnerungen, in denen die Fans zurzeit schwelgen müssen, hat etwas mit dem Cup zu tun. Selbst in den Jahren, in denen der Verein der Bundesliga angehörte, war meistens schon in der ersten oder zweiten Runde Schluss. Gern auch gegen Drittligisten.

Nun steht St. Pauli im Halbfinale gegen den ganz Großen, den FC Bayern. Ausgerechnet jetzt, in einer Zeit, in der es überhaupt nicht gut steht um den Verein. Der Aufstieg in die Zweite Liga ist höchstwahrscheinlich verpasst und die Regionalliga ein Verlustgeschäft. Zwar bringt der Halbfinaleinzug vorerst Geld, doch viele Jahre dürfen es nicht mehr werden bis zum Aufstieg. Irgendwann beginnt ein Kreislauf, der schon viele Vereine in die totale Bedeutungslosigkeit der vierten oder fünften Liga gebracht hat. Für den FC St. Pauli könnte die Luft bald dünn werden.

Doch der Alltag ist für einen Moment ausgeschaltet auf dem Kiez. Nach Siegen gegen die ebenfalls schon viel größeren Wacker Burghausen, VfL Bochum, Hertha BSC und Werder Bremen trennt den Verein nur noch eine Tür zum großen Finale in Berlin. Eine dicke Tür. Die Bayern, in der Champions League ausgeschieden, in der Meisterschaft nach der 0:3-Pleite gegen Werder plötzlich doch wieder unter Druck und vor allem gedemütigt durch die Degradierung Olli Kahns zur Nummer zwei im WM-Team, sind wütend. Hier geht es nicht um ein normales Spiel: Das Finale des DFB-Pokals ist für die Bayern Pflicht, keine Kür. Trainer Felix Magath ließ die Spieler zur Vorbereitung auf den Acker im Millerntorstadion auf einem Holperplatz des Münchner Trainingsgeländes üben. Dass der Tabellenführer, Meister und Pokalsieger die St. Paulianer unterschätzt, ist unwahrscheinlich. Auch, weil Co-Trainer Seppo Eichkorn Verein und Umfeld noch ziemlich genau kennt: Er war in den neunziger Jahren selbst St. Pauli-Trainer.

Und dann ist da noch der 6. Februar 2002. Jener Wintertag vor vier Jahren, an dem ausgerechnet der Tabellenletzte der Ersten Liga die Bayern am Millerntor mit 2:1 demütigte und St. Pauli sich seinen Stolz zurückholte. Da gab es wieder eine dieser endlosen Siegesnächte mit Autokorsos, Lagerfeuern auf der Reeperbahn und sich verbrüdernden Punks und Polizisten. Ein letztes Mal, für lange Zeit, war St. Pauli im Freudenrausch. Hin und wieder braucht ein Fan einer kleinen Mannschaft solche Erlebnisse. Neue Legenden, die die Augenzeugenschaft der vielen Heimniederlagen im Novemberregen gutmachen. "Weltpokalsiegerbesieger" nannte sich der Verein fortan, und auf zehntausenden eilig bedruckten T-Shirts wurden Spielstand, Aufstellung und der selbstverpasste Titel für alle Zeiten festgehalten. Den Bayern fehlten am Ende genau diese drei Punkte zur Meisterschaft.

Es spricht einiges dafür, dass Bayern München nicht noch einmal auf St. Pauli verlieren wird. Vor allem nicht aus Leichtsinnigkeit. Die St. Pauli-Fans bleiben jedoch der Haltung treu, die sie brauchen, um St. Pauli-Fans zu sein: "Der 12.4. ist das Doppelte des 6.2." schreibt einer hoffnungsfroh im Internet. Ein Anderer kombiniert: "Dann muss das Spiel 4:2 ausgehen." „Logisch“, erklärt der Nächste, "wir befinden uns ja auch im Halbfinale."

Der FC St. Pauli hat nach seriösen Umfragen mehr als 10 Millionen Sympathisanten in Deutschland. Nun, vor dem großen Tag, sind sie alle wieder da. Drei Jahre nachdem der Verein aus der Zweiten Liga abstieg, wird erstmals wieder bundesweit über ihn berichtet. Nicht nur deutsche, sondern auch isländische, israelische und sogar malayische Medien haben Hintergründe und Reportagen über diesen merkwürdigen Verein, seinen Stadtteil und die ewig spannende Konstellation Riese - Zwerg veröffentlicht.

Dabei sind die Bayern längst nicht mehr das Feindbild, dass sie in den Neunzigern abgaben, als Manager Uli Hoeneß beim Einlaufen ins Stadion mit Münzen beworfen wurde und das Stadionmagazin anlässlich eines Bundesligaspiels den "Klassenkampf" ausrief. Spätestens seit Hoeneß den Verein 2003 mit einem Benefizspiel vor dem Zwangsabstieg in die Vierte Liga rettete, ist das Verhältnis der St. Pauli-Fans zu den Bayern merkwürdig gespalten. Sicher sind die Münchener immer noch Krösus der Liga, doch inzwischen gibt es längst verwerflichere Modelle der Vereinsführung. Da sind die Werksvereine Wolfsburg und Leverkusen, da gibt es offenbar unseriös finanzierte Aufblasklubs wie Schalke oder Dortmund. Da ist - natürlich - der HSV und die traditionell ungeliebte Hertha aus Berlin. Nein, selbst als eingeschworener Linker hat man es schwer, den hin und wieder sogar sozial tätigen Hoeneß und seinen Verein als Bad Guy des deutschen Fußballs hinzustellen.

Ein Stellvertreterkrieg der politischen Ansichten wird dieses Spiel nicht werden. Es wird ein Wettrennen zwischen einem Porsche und einem Polo, wahrscheinlich ein demütigendes für den Polo. Doch vielleicht geht dem Fahrer auf halber Strecke das Benzin aus, vielleicht fährt er die falsche Strecke. Es ist der alte Kampf um das Unmögliche. Und den kennt man gut auf St. Pauli. "Realität ist was für Leute, die mit Drogen nicht umgehen können" schrieb mal ein St. Pauli-Fan. Welch ein Erdbeben wäre der Einzug der verarmten Kiezkicker in das Pokalfinale. Man wünscht es sich, um der Gerechtigkeit willen und weil es glücklich macht zu sehen, dass ein Chancenloser die übermächtigen Umstände besiegen kann. Realitätssinn ist genau das Falsche für heute Abend.

04 / 2006
ZEIT ONLINE