Reise

Insel für einen Tag

Wie lebt es sich eigentlich wirklich auf einer kleinen Traum-Insel? Natascha begab sich auf die Suche nach dem Paradies - zur Freude der Bewohner

Von Natascha Kramer

Die Philippinen bestehen aus 7107 Inseln, deshalb haben sie ihren Namen auch im Plural bekommen. Inseln gibt es also genug. Manche Inseln sind so groß, dass man sie versehentlich als Festland bezeichnet. Die meisten Inseln sind aber so klein, dass nur einige Kokosnusspalmen und wenige Menschen dort wohnen. Wie lebt es sich wirklich dort? Ist eine Urlaubs-Paradies-Insel auch ohne Urlaub eine Paradies-Insel?

Wer Antworten sucht, muss fragen. Ich beschließe, diese Fragen den Bewohnern von Mantigue Island zu stellen, eine von vielen Mini-Inseln. Manchmal erzählt mir ein Tourist, der die Insel versehentlich besucht hat, dass die Bewohner gerne mit Nicht-Einheimischen reden. Ich fahre von Mindanao, der nächsten größeren Insel, mit dem Schiff nach Camiguin, einer kleineren Insel. Am nächsten Tag will ich von dort auf die Mini-Insel übersetzen, jeden Tag ein Inselchen kleiner ist mein Motto. Morgens laufe ich zum nächsten Strand, um mir ein Taxi-Boot zu organisieren. Die Fischer sind von ihrer ersten Tour zurück und verkaufen gerade den Fang an Zwischenhändler. Ich bin rechtzeitig gekommen: Bevor sie ihren Tagesumsatz in Tanduay, philippinischen Rum, verwandeln, frage ich, ob mich jemand mit seinem Boot nach Mantigue bringen kann. Der zahnlose Antonio ist hoch erfreut und führt mich zu seiner Banka. „Fliege-Schiffe“ hat mein kleiner Neffe diese Boote, die es nur hier gibt, auf seinem Urlaubsbesuch im Sommer genannt, denn über den Schiffskörper sind waagerecht gebogene Hölzer gespannt, an deren Enden lange Holzplanken im Wasser liegen. Parallel zum Boot sehen sie aus wie Flügel und sorgen dafür, dass wir auch bei starkem Wellengang nicht umfallen.

Im Augenblick ist das Meer glatt wie ein Babypopo und Antonio gibt Vollgas. Nebenbei hört er nicht auf, das Bootsinnere mit einer alten Blechdose zu entwässern. Meinen besorgten Blicken schenkt er zahnlose Lächeln.

Nach einer halben Stunde sind wir fast da. Antonio kann nicht bis ans Ufer fahren, denn es ist Ebbe. Hundet Meter vom Strand entfernt lässt er mich aussteigen, er muss mir versprechen, mich um fünf Uhr wieder abzuholen. Vorsichtshalber bezahle ich ihn noch nicht. Ich raffe meinen Rock, packe meinen Rucksack und stakse zum Ufer. „Pass auf die Seeigel auf,“ ruft mein Kapitän noch. „Tut weh, wenn du reintrittst.“ So habe ich mir die Ankunft im Paradies nicht vorgesellt.

Am Strand liegen einige Bankas, die Menschen hier leben hauptsächlich vom Fischen. Nackte Kinder spielen im flachen Wasser und staunen mich an. Eine Frau mit blonden Haaren sehen sie nicht oft, und noch seltener eine mit Babykugelbauch. Am Strand sitzt ein Junge und öffnet mit einem Messer Muscheln, das Fleisch packt er in Streichholzschachteln. Langeweile oder Business?

Sonst ist niemand zu sehen, es ist Mittagszeit, eine Zeit, zu der Filippinos schlafen, das scheint im Paradies nicht anders zu sein. Ich beschließe, einmal um die Insel herumzulaufen, im Uhrzeigersinn.

Nach zehn Minuten treffe ich eine Gruppe Männer und Frauen, die unter Palmen ein Feuer machen. Über dem Feuer braten sie Fisch, in einem Topf köchelt Reis. „Hallo,“ begrüße ich sie. „Wohnt ihr hier?“

„Nein,“ antwortet eine Frau, „wir kommen nur zum Fischen hierher. Vor Mantigue gibt es den besten Fisch, das lohnt sich.“ Wenn ich einen echten Einwohner treffe, werde ich ihn fragen, was er davon hält.

Ich spaziere weiter. Der Strand ist leer bis auf Muscheln, im Landesinneren, oder eher Inselinneren, wachsen Kokosnusspalmen zwischen Bambushütten. Nach fünf weiteren Minuten sehe ich in einiger Entfernung die Stelle, an der ich angekommen bin. Ich habe die Insel fast umrundet und noch ist nichts passiert. Jetzt sind einige Hütten am Strand zu sehen. Ich habe Durst. Ob es hier einen Kiosk gibt? Sicher nicht, aber fragen kostet auch hier nichts. Das erste Haus ist gleich ein Kiosk. Unglaublich. Vor dem Insel-Kiosk sitzt eine Frau und laust einem Mädchen die Haare. Als sie mich sieht, springt sie auf, spurtet in die Hütte und taucht im Kiosk auf. „Wasser ist ausverkauft,“ erklärt sie mir. „Aber Softdrinks und Bier gibt es.“ Für Bier bin ich zu schwanger, also entscheide ich mich für „Tru Orange“, die philippinische Fanta, die alles enthält außer echten Orangen. Ich spaziere zwischen den Hütten herum und schaue mich um. Aus einer Hütte dringt lautes Schnarchen, tief und regelmäßig. Um diese Uhrzeit scheint nicht viel los zu sein. In der nächsten Hütte sitzen Menschen - vielleicht eine Familie - auf dem Boden und spielen Karten. Sie lachen mich an und fragen, ob ich mitspielen möchte. „Später vielleicht,“ rufe ich. Niemand scheint überrascht, dass ich hier bin. Aus der dritten Hütte winkt mir ein Mädchen freundlich zu. Ich schlendere wieder Richtung Strand und sehe eine überdachte Bank. Drei Männer sitzen dort, zurückgelehnt lassen sie sich die Sonne auf die nackten Bäuche scheinen. Ich nehme Blickkontakt auf und setze mich zu ihnen.

„Hallo. Wohnt ihr hier?“ Nur einer von ihnen spricht Englisch, obwohl es die offizielle Landessprache ist. Er heißt Jun und übersetzt meine Fragen für Bongo und Boy. Sie erzählen mir, dass 405 Erwachsene und viele Kinder auf Mantigue leben, wahrscheinlich macht sich niemand die Mühe, sie zu zählen, weil es immer mehr werden. Die Männer sind Fischer, ihre Frauen bringen den Fisch nach Camiguin und verkaufen ihn auf dem Markt. Seit kurzem gibt es eine Schule auf der Insel, vorher mussten die Kinder morgens mit dem Boot zur nächsten Insel fahren, um eine Schule zu besuchen. Das hat natürlich niemand gemacht und deshalb sind die Kinder nicht zur Schule gegangen. Stattdessen haben sie ihren Eltern beim Fischen oder beim Verkaufen geholfen und irgendwann sind sie dann Fischer oder Fischverkäufer geworden. Jetzt können die Kinder zur Schule gehen und später vielleicht studieren, sagen die Männer.

„Mögt ihr euer Leben?“ will ich wissen. Stille ist die Antwort. „In Deutschland träumen manche Menschen davon, auf einer einsamen Insel zu leben,“ erkläre ich ihnen. Ich glaube, sie verstehen meine Frage nicht, trotz Übersetzung. Alle schweigen. Schließlich sagt Jun, dass sie über so etwas gar nicht nachdenken. Schließlich leben sie schon seit ihrer Geburt auf dieser Insel, ein anderes Leben kann sich niemand vorstellen.

Einer der Männer weiht mich in die philippinische Regel vom Überleben ein: Wenn du fünf Kokosnusspalmen hinter der Hütte hast, brauchst du nicht arbeiten. Du hast genug, um einige Kokosnüsse zu verkaufen und davon den nötigen Reis zu kaufen. Vielleicht ist das so etwas wie Glück. Die Kokosnüsse erinnern mich daran, dass ich Hunger habe. Was macht man auf einer einsamen Insel bei Hunger? „Gibt es hier ein Restaurant?“, frage ich (schließlich habe ich auch einen Kiosk gefunden). Alle lachen jetzt. Manchmal kommen zwar Touristen, aber die essen nichts, die essen lieber in ihren Resorts. Bongo sagt, dass er kochen kann. Wenn ich möchte, gibt es gleich frischen Fisch, Reis und Muschelsuppe.

Ich bin gerührt und einverstanden. Bis das Essen auf dem Tisch steht, bin ich touristisch und gehe schnorcheln. Im Wasser stelle ich fest, dass der seit kurzem verordnete Naturschutz hilft. Ich sehe kaputte Korallen, aber immer mehr Stellen, die sich schon erholt haben. Die Mehrheit der Fischer hat das Dynamitfischen aufgegeben und hält sich an die Auflage, nur in abgegrenzten Gebieten vor der Insel zu fischen. Manche Fischarten wie Rochen sind tabu. Trotzdem gibt es immer wieder Zeiten, in denen Fischer sich eine Ausnahme erlauben. Zeiten, in denen der Hunger größer ist als der Naturschutz der Behörden vom Festland. Dann holt ein Fischer schon mal 18 Rochen aus dem Meer und wenn sich der Polizist von der Nachbarinsel beschwert, bekommt er Rochen ab und die Sache ist geklärt.

Bongo winkt mir vom Strand aus zu, das Essen ist fertig: ein Pfund Reis, über offenem Feuer gegrillten Fisch mit Sojasauce und die beste Muschelsuppe der Welt. Zu Hause, im Schneeregen, würde mir das nicht schmecken, hier ist es köstlich. Zu Hause würden auch nicht zwei Männer um mich herum stehen und mir mit Palmenblättern die Fliegen weg- und kühle Luft zufächeln.

Als ich fertig bin tauchen drei Mädchen auf, setzen sich gegenüber auf die Bank und starren mich an. Ich weiß nicht, was ich machen soll und starre zurück. Dann zeige ich auf mich und sage meinen Namen. Sie kichern verlegen, zeigen dann doch auf sich und sagen ihre Namen: Rosalin, Marites und Sara. Mir fällt ein, dass ich Zettel und Stifte in meinem Rucksack habe und hole alles heraus. Wir malen. Ich male einen Schneemann und gebe ihnen den Zettel. Sie gucken mich erstaunt an und laufen schließlich weg. Vielleicht hätte ich eine Palme malen sollen.

Kaum sind sie verschwunden, setzt sich ein Mann zu mir. Obwohl hier nichts los ist, ist hier viel los, finde ich. „Hallo ich bin Roger, der Bürgermeister. Und der Lehrer.“ Er bietet mir an, mir die Schule zu zeigen, die Inseleinheimischen sind stolz auf ihre Bildungsstätte. Ich lehne ab, ich möchte lieber ein philippinisches Verdauungsnickerchen machen, auch wenn mir dafür die Schule durch die Lappen geht. Roger gibt mir seine Handynummer, ich soll Bescheid sagen, wenn ich noch mal wiederkomme. Dann fragt er noch, ob ich schon verheiratet bin. Ich zeige auf meinen Babybauch und den Ring und nicke heftig. „Schade,“ sagt er. „Ich habe einen Cousin, der noch unverheiratet ist.“

In diesem Moment sehe ich Antonio und seine Banka und bin dankbar. Ich verabschiede mich freundlich von allen Inselbewohnern und wate durchs Wasser zum Boot. Tschüss, Insel. Mehr als Urlaub möchte ich hier nicht verbringen, vom Paradies zu träumen ist besser als Realität.

04 / 2006
ZEIT ONLINE